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35. Jahrgang InternetAusgabe 2001
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Die Schwankungsanfälligkeit des IWF-Systems

Ein Bericht von Georg P. Christian

Im Jahr 1988, zur Herbsttagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank in Berlin, hatten sich die Studien von Zeitfragen letztmals ausführlich mit »Fakten zur Schuldenkrise«, mit »Kampagne und Gegenkongreß« gegen jene Tagung befaßt. (Heft 3/1988) In einer Sonderbeilage war damals weitgehend vollständig der Wortlaut der zuvor gerade veröffentlichten Enzyklika Johannes Pauls II. »Sollicitudo Rei Socialis« abgedruckt worden, in welcher der Papst an die 20 Jahre davor herausgegebene Enzyklika Pauls VI. »Populorum Progressio« erinnern wollte; in seiner Analyse der modernen Probleme hatte Papst Johannes Paul II. darin ein weiteres Mal versucht, die Hindernisse der Entwicklung aufzuspüren, die sich als scheinbar unüberwindbare Schwelle zu einem neuen Zeitalter der gesamten diesen Planeten bewohnenden Menschheit entgegen den kühnen Vorstellungen (z. B. Roosevelts) von einer Neuordnung der Weltangelegenheiten nach dem Zweiten Weltkrieg und in Verbindung mit der begonnenen Auflösung der Kolonialreiche angelagert hatten.

In seiner Betrachtung kommt Johannes Paul II. zu der Feststellung:

    »Deshalb ist zu betonen, daß eine in Blöcke geteilte Welt, die von starren Ideologien gestützt werden und wo statt gegenseitiger solidarischer Abhängigkeit verschiedene Formen von Imperialismus vorherrschen, nur eine Welt sein kann, die ‘Strukturen der Sünde’ unterworfen ist. Die Summe der negativen Faktoren, die sich in einem Sinne auswirken, der zu einem echten Bewußtsein vom umfassenden ‘Gemeinwohl’ und von der Aufgabe, dieses zu fördern, im Gegensatz steht, macht den Eindruck, in Personen und Institutionen eine Barriere zu schaffen, die nur schwer zu überwinden ist.

    Wenn die heutige Situation Schwierigkeiten unterschiedlicher Natur zuzuschreiben , so ist es nicht verfehlt, von ‘Strukturen der Sünde’ zu sprechen, die, wie ich im Apostolischen Schreiben Reconciliatio et Paenitentia festgestellt habe, in persönlicher Sünde ihre Wurzeln haben und daher immer mit konkreten Taten von Personen zusammenhängen, die solche Strukturen herbeiführen, sie verfestigen und es erschweren, sie abzubauen. Und so verstärken und verbreiten sie sich und werden zur Quelle weiterer Sünden, indem sie das Verhalten der Menschen negativ beeinflussen.

    ‘Sünde’ und ‘Strukturen der Sünde’ sind Kategorien, die nicht oft auf die Situation der Welt von heute angewandt werden. Man gelangt aber nicht leicht zu einem tieferen Verständnis der Wirklichkeit, wie sie sich in unseren Augen darbietet, wenn man der Wurzel der Übel, die uns bedrängen, nicht auch einen Namen gibt.« (Volltext Sollicitudo Rei Socialis in Englisch hier nachzulesen.)

    Daß der Papst hier einer »Gesetzmäßigkeit« den Namen gab, welche die Funktionsweise des IWF bei der »notwendigen Aufgabe« der »Entwicklung der Dritten Welt« als letztem Gewährträger einer von privaten Banken betriebenen Akkumulation von Finanzkapital kennzeichnet, wurde schon damals aus einer Aufstellung der tatsächlichen Schuldverhältnisse der Länder der bis dahin noch Dritten Welt deutlich.

1980 belief sich die gesamte langfristige Auslandsverschuldung (öffentlich und privat) von 109 Entwicklungsländern auf 449 Mrd. Dollar. Seit 1980 hatten diese 109 Entwicklungsländer beeindruckende Zahlungen an ihre Gläubiger geleistet. Auf diese 449 Mrd. Dollar Grundschuld 1980 zahlten sie von 1980 bis 1986 325,9 Mrd. Dollar an Zinsen. Zur Tilgung der Grundschuld bezahlten sie in diesen sechs Jahren weitere 332,1 Mrd. Dollar.

Insgesamt hatten diese Nationen gegen Ende der 80er Jahre für ihre anfängliche Verschuldung von 449 Mrd. Dollar aus dem Jahre 1980 also bereits 658 Mrd. Dollar gezahlt. Obwohl demnach die ursprünglichen Schulden Ende 1986 zurückgezahlt waren und darüber hinaus zusätzlich 109 Mrd. Dollar, betrug die Auslandsverschuldung dieser 109 Nationen nach der Rechnung der Banken 882 Mrd. Dollar.

Den Sprachrohren des internationalen Finanzkapitals und der veröffentlichten Meinung jener Länder, die beim IWF die Hauptanteilseigner stellen, kam damals die Sorge des Papstes um das Gemeinwohl der Nationen ganz und gar ungelegen. Deshalb wurden seine Gedanken auch in kaum einer Zeitung einer annähernd vollständigen Wiedergabe gewürdigt. Ein Jahr später fiel die Mauer in Berlin und damit das morsche Gebäude der »Zweiten Welt«, des sowjetisch dominierten Wirtschaftsraums der Staaten des Warschauer Paktes.

Wegfall der »Zweiten Welt«

Gegen Ende dieses Jahres 1989 fand eine weitere Jahrestagung von IWF und Weltbank in Washington statt. Einer der klügsten internationalen Bankiers, der bereits Jahre zuvor Lösungsmodelle zur Überwindung der Schuldenkrise vor allem in Iberoamerika vorgetragen und diese auch schon 1988 in Berlin verfochten hatte, Alfred Herrhausen, konnte auf dieser Tagung seine Rede, die gewiß nicht den Beifall seiner Bankierskollegen gefunden hätte, nicht mehr halten, weil er wenige Tage zuvor einem Mordanschlag zum Opfer gefallen war.

Von der Mehrheitsmeinung der IWF- und Weltbankmanager, der Zentralbankiers und Finanzminister mit ihrem Beamtentroß wurde beschlossen, daß sich alle Mitgliedsstaaten des Internationalen Währungsfonds ausdrücklich auf eben die Strukturen der Sünde verständigen und verpflichten sollten. Im Triumphgefühl des Sieges im Kalten Krieg und des Wegfalls aller Behinderungen durch die Sowjetunion und ihrer Trabanten wollte man vielmehr die finanziellen und ethischen Grundregeln des internationalen Kapitalverkehrs zugleich vereinfachen und verschärfen. Diese Regeln nannte man dann den »Konsens von Washington«. Dieselben Zwecke und Funktionsweisen des IWF, die zu einer solch absurden Ausplünderung und Neuverschuldung der Entwicklungsländer (durch Währungsabwertungen, Umschuldungen etc) und damit zu ihrem praktischen Bankrott geführt hatten, sollten durch die vollständige und eigentliche Freisetzung der Dynamik des Marktes in der Anwendung der zehn Punkte des Washington Consensus zum Durchbruch kommen, welche folgende Maßnahmen und Regeln forderten:

1] Finanzdisziplin, 2] Umlenkung der Staatsausgaben, 3] Steuerreform,  4] Finanzliberalisierung, 5] Annahme eines einzigen, wettbewerbsfähigen Wechselkurses, 6] Liberalisierung des Handels, 7] Entfernen von Hindernissen für Direktinvestitionen aus dem Ausland, 8] Privatisierung von Staatsunternehmen, 9] Deregulierung des Markteintritts und der Konkurrenz, 10] Sicherstellung von Eigentumsrechten. (Zu den Absichten und Wirkungen dieser Richtlinien, mit denen auch die Losung von »Reform und Globalisierung« in den Sprachgebrauch der Finanzkapital-Eliten Eingang fand, ein Verweis auf Moises Nahim in Foreign Policy Magazine.

In der neuen Ära, die mit dem Zusammenbruch des Comecon-Wirtschaftsraums anzubrechen schien, wurden alle nicht zu den G7 oder dem Commonwealth gehörenden Wirtschaftsräume zur »Dritten Welt« oder, mit mehr Schwung und Aussicht auf neue Perspektiven benannt, zu »aufstrebenden« Ländern. Ob allerdings die Richtlinien des »Washington Consensus« den Internationalen Währungsfonds in die Lage versetzen würden, so unterschiedliche Aufgaben zu verwalten und zu beaufsichtigen wie die Herstellung einer funktionierenden und wachsenden Marktwirtschaft in der ehemaligen Sowjetunion oder die Abwendung der Gefahren, die von der mexikanischen Finanzkrise 1994/95 für das Weltfinanzsystem ausgingen, war schon damals eine Frage, die immer wieder in letzter Instanz nur das amerikanische Finanzministerium beantworten konnte und mußte.

Als tatsächlichen Erfolg des Washingtoner Konsenses wollten dagegen die Anhänger jener Richtlinien eine Zeit lang das Wachstum der südostasiatischen »Tiger«-Staaten sich zuschreiben und sich dafür feiern; auch noch nach dem Platzen der Finanzblase in Japan, dessen Staat sich seither mit Billionen von Yen unaufhörlich weiter verschuldet, während gleichzeitig Japans Zentralbank mit dem niedrigsten aller Zentralbankzinssätze die weltweite Liquidität »bereichert«.

Was dem Konsens als Erfolg zugeschrieben wird

Seit der Asienkrise 1997/98 und der zeitweiligen Zahlungseinstellung Rußlands im August 1998 gibt es für die Befürworter der 10 Punkte jedenfalls kaum mehr etwas zu feiern. Bei den Bürokraten des Weltfinanzsystems ist nun der Schrecken vor dem Abgrund eingekehrt und die Experten der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich arbeiten fieberhaft an Analysen und Sicherheitsvorkehrungen, um den Weltkapitalverkehr der privaten Banken und Finanzorganisationen neuen und schärferen Regeln zur Risikovorsorge und -haftung zu unterwerfen.

Das Konglomerat der global handelnden Banken könnte sich dagegen ganz im Gegenteil eher vorstellen, daß die Gewährträger des internationalen Währungs- und Finanzsystems im IWF (letztlich die Steuerzahler der großen Anteilseignerstaaten) weiterhin die Hauptlast des »bailing out« tragen sollten, wenn das Nationaleinkommen, die Währung und der Lebensstandard eines Landes wie beispielsweise Indonesien binnen Monaten auf den Wert von vor 30 Jahren zurückschrumpft und es daher nicht mehr in der Lage ist, die Kredite zu bedienen, die ihm von den internationalen Banken gewährt worden sind. In solch einem Katastrophenfall gerät der Währungsfonds dann allerdings in eine absurde Lage, wenn er einerseits seine letzten sofort verfügbaren Finanzmittel hergeben muß, um die Zahlungen Indonesiens an die Banken zu gewährleisten, andererseits aber die staatlichen und privaten Schulden dadurch willkürlich erhöhen muß, daß er einer seiner seit den siebziger Jahren berüchtigtsten Auflagen Geltung verschafft: die Währung des gefährdeten Landes muß erst einmal abgewertet werden.

Daß die strikte Auslegung der 10 Punkte des Washingtoner Konsenses als Vorrang sowohl globaler als auch privater Wirtschaftstätigkeit schon beim Beispiel des »Asienwunders« (vor der Asienkrise) an der tatsächlichen Entwicklung vorbeiging, daß sie gar auf die Entwicklung Chinas nicht anwendbar war, hat Joseph Stiglitz einst Wirtschaftsberater Präsident Clintons und bis Ende des Jahres 1999 Chefökonom der Weltbank, bereits in einem Vortrag Anfang 1998 in Helsinki (auf dem Höhepunkt der durch die Währungskrisen ausgelösten Stürme in Asien) dargestellt: »More Instruments and Broader Goals: Moving Toward the Post-Washington Consensus«

Seither ist Stiglitz unter den Finanzweisen im Orbit des IWF, der Weltbank und des amerikanischen Finanzministeriums zum Dissidenten geworden. Seine unermüdlich vorgetragenen abweichenden Schlußfolgerungen zu untauglichen Maßnahmen der internationalen Finanz- und Entwicklungsinstitutionen ist dem Mitte letzten Jahres vom Stellvertreter zum künftigen Chef im US Treasury Department designierten Karriereakademiker Lawrence H. Summers oft so sauer aufgestoßen, daß er dafür gesorgt hat, daß Stiglitz nicht mehr als Chefökonom der Weltbank amtieren, sobald er das Ruder im amerikanischen Finanzministerium übernommen haben würde.

Beim Treasury Secretary in Ungnade gefallen

Diese Aversion gegenüber dem Kritiker verwundert nicht, denn zum einen war Summers in den frühen neunziger Jahren selbst (allerdings weniger produktiv) in der Funktion des Chefökonomen bei der Weltbank, zum andern war er auch als stellvertretender US-Finanzminister derjenige, der das Mismanagement der Finanzkrise in Asien zusammen mit seinem Partner Stanley Fischer so weit getrieben hatte, daß sogar Sprecher der Deutschen Bundesbank sich genötigt sahen, für das Fortbestehen der Grundlagen des IWF ernsthafte Befürchtungen zu äußern.

Als im Mai 1997 die Zahlungsunfähigkeit Thailands bei Krediten aus den USA, Japan und Europa kurz bevorstand, war Summers für das Krisenmanagement verantwortlich. Wegen der massiven Kritik an der Rettungsaktion Anfang 1995 für das in Mexiko angelegte Kapital amerikanischer Banken aus Haushaltsmitteln setzte er diesmal ganz auf den IWF. Sein schlagendes Argument war, daß lediglich 18 Prozent der Gelder von IWF-"Rettungsaktionen" aus den Taschen des amerikanischen Steuerzahlers stammten, der Anteil der US-Banken an notleidenden Krediten aber viel höher sei.

Allein bis Ende 1998 hatte der IWF insgesamt bereits 180 Mrd. Dollar für solche "Rettungsaktionen" in Thailand, Indonesien, Südkorea, den Philippinen, Rußland, der Ukraine und Brasilien aufgebracht.

Auch im amerikanischen Kongreß wurde danach erbittert darüber diskutiert, ob ein wegen der astronomischen "Rettungspakete" notwendiger neuer Zuschuß von 18 Mrd. Dollar aus US-Steuergeldern dem IWF zukommen sollte. Dabei wiesen Ökonomen völlig richtig darauf hin, daß die IWF-Milliarden überhaupt nicht dazu beitrugen, Hunger und wirtschaftliche Not der von der Asienkrise betroffenen Bevölkerungen zu lindern, sondern einzig und allein dazu dienten, hochriskante, milliardenschwere Kapitalinvestitionen zu sichern. Wie zuvor in Mexiko, trugen die IWF-Gelder nichts zur Wiederankurbelung etwa der schwer angeschlagenen russischen oder thailändischen Volkswirtschaften bei. Im Gegenteil, die mit der "Hilfe" verknüpften IWF-Auflagen verschärften noch die Wirtschaftskrise in den betroffenen Ländern. Summers war der Mann in der US-Regierung, der den Kongreß so "bearbeitete", daß die zusätzlichen 18 Mrd. Dollar für die IWF-Rettungspakete schließlich bewilligt wurden.

So ganz unzutreffend ist es daher nicht, wenn man eine alte amerikanische Anekdote auch auf Summers münzt. Ein berüchtigter Bankräuber der 30er Jahr wurde gefragt, warum er immer wieder Banken ausraube. Die Antwort: »Weil da das Geld liegt.« Es heißt, Larry Summers würde genauso antworten, wen man ihn fragte, warum er immer das tut, was die Wall Street und die internationalen Großbanken wollen. Summers ist der schnellziehende Pistolero innerhalb der subalternen Elite von Ökonomen, Bürokraten und Ideologen in New York und Washington, des postindustriellen Komplexes des aufgeblähten Dollar-Kapitals.

Ein Pistolero der Ökonomenzunft

Bis zur Frühjahrstagung des Währungsfonds und der Weltbank im April dieses Jahres in Washington hat es viel Streit auf diplomatischer Bühne und viele Diskussionspapiere zur Rolle und Reform des Währungsfonds gegeben. Bis zum 14. April, dem »Beben an der Wall Street«, als der Kurs der Aktienbörse NASDAQ so gefährlich ins Rutschen geriet, daß er ein Papiervermögen von 4000 Milliarden DM unter sich begrub, hielt sogar die deutsche Presse den Atem an, weil sich die Bundesregierung erkühnt hatte, den Posten des Chefmanagers des IWF für einen Deutschen zu beanspruchen. Dabei hatte sie ausgerechnet diesem Finanzminister Lawrence H. Summers die Stirn geboten. Wohl nur der gute Wille seines Präsidenten gegenüber der deutschen Regierung und Europa konnte Summers davon abhalten, mit dreister Dickschädeligkeit den Europäern seinen Kandidaten Stanley Fischer aufzuzwingen. Vielleicht hat diese diplomatische Nothilfe des amerikanischen Präsidenten noch einen weiteren Ausschlag dafür gegeben, daß man im Preisverleihungsdirektorium des Aachener Karlspreises William Jefferson Clinton als ersten amerikanischen Präsidenten für würdig hielt, diesen erzeuropäischen Preis in diesem Jahr verliehen zu bekommen.

So kühn der diplomatische Kraftakt der Schröder, Steiner & Co sich ausnehmen mag, gegen großen amerikanischen Widerstand auf dem IWF-Chefposten für einen Deutschen zu bestehen, so wenig kühn klingt all das, was von Seiten der deutschen Regierung oder vom neuen IWF-Direktor Köhler zur Reform des Währungsfonds geäußert wurde. Einen konzeptionellen Grund für das Festhalten an einem deutschen Kandidaten für Europa kann es ja schon deswegen nicht gegeben haben, weil man zuerst einen früheren Zuarbeiter des weltberühmten Entwicklungspioniers MacNamara ins Rennen geschickt hatte, gleichsam um von vornherein zu bekunden, daß es bloß um die Behauptung des Postens, nicht um die Behauptung einer Position gehen würde. Der neue deutsche IWF-Direktor kann mit dem Posten zufrieden sein: Was immer er in seinem Job zustande bringt, er wird jedenfalls höher besoldet als der amerikanische Präsident.

Hätten die überaus forschen deutschen Diplomaten tatsächlich einen qualifizierten Kandidaten für den Chefposten beim Währungsfonds gesucht, der bereits klare Vorstellungen zu einer »neuen internationalen Finanzarchitektur« entwickelt und öffentlich vorgetragen hatte und obendrein genau der Statur entsprochen hätte, die angeblich das amerikanische Finanzministerium einem Kandidaten zur Bedingung gemacht hat, so hätte die Wahl auch der Europäer durchaus gerade auf den »Minderheits«-Kandidaten treffen können, der »nur« von Staaten mit dem größten Anteil der Weltbevölkerung, nicht aber mit dem größten Anteil im Währungsfonds, nämlich Asiens, befürwortet worden war: auf den ehemaligen stellvertretenden Finanzminister Japans, Eisuke Sakabibara, dem einzigen namhaften Verantwortlichen, der in der Asienkrise Vorschläge zur Überwindung der Krise unterbreitet hatte. Doch die gefielen dem damals noch stellvertretenden Finanzminister der USA überhaupt nicht: Der Gedanke eines Asiatischen Währungsfonds war für das Finanzestablishment des US-Treasury genauso Anathema wie die Vorschläge des amerikanischen Präsidenten zur Erarbeitung einer grundlegenden »Reform der weltweiten Finanzarchitektur«, die er vor dem Council on Foreign Relations im September 1998 dargelegt hatte.

Von dem übergangenen Kandidaten Sakakibara wird auch eine Anekdote überliefert, die den finanzkapitalistisch-bürokratischen Komplex des IWF bis zur Kenntlichkeit entstellt. Zu ihm kam einst ein IWF-Direktor und erzählte ihm mit sichtlichem Vergnügen von einem Experiment, das er im Apparat angestellt hatte: Er hatte in einem Beratungspapier schlicht den Namen des betreffenden Landes unkenntlich gemacht, das Papier unter den Experten seiner Abteilung zirkulieren lassen und die Frage gestellt, wer das Land (es handelte sich um ein verhältnismäßig kleines Entwicklungsland in Asien) wohl erraten würde. Nicht einer von jenen Experten war in der Lage, aus dem Papier, das voll und ganz im Washingtoner Fonds-Kauderwelsch, mit Geldversorgung, inländischem Kredit, Haushaltsdefizit und Schuldendienstraten, verfaßt war, das Land noch zu raten. Da könnte doch die Frage erlaubt sein, was eigentlich die deutsche Regierung danach drängt, ausgerechnet einer solchen Bürokratie einen deutschen Vorsteher vorzusetzen.

Euro-Jammer

Die tapferen deutschen Europäer, von Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank und Euro-Posaunist der gemeinsamen europäischen Welt-Anlagewährung, aufgemuntert, hatten gewähnt, sich innerhalb ihrer Unionsgrenzen mit dem Euro Währungsstabilität einzurichten und jammern jetzt kleinlaut darüber, daß der Wechselkurs des Euro gegenüber dem Dollar, ja sogar gegenüber dem Yen beständig sinkt. Diese Entwicklung hatte eingesetzt nach dem Absturz des NASDAQ-Indexes und der Frühjahrstagung des IWF in Washington, zwei beinahe gleichzeitige Ereignisse, und die europäischen Kapitalmarktauguren rätseln seither, warum das (eben sehr bewegliche) globale Anlagekapital denn die so redlich zusammengesetzte europäische Kunstwährung dermaßen verschmäht, nachdem doch nun seit 1992 alles getan wurde, um mit den Maastricht-Richtlinien den »Washingtoner Konsens« aufs Schärfste und Genaueste allen europäischen Nationalstaaten unterschiedslos zu oktroyieren.

Mit diesem Sinkflug des Euro wird demjenigen, der sehen will, demonstriert, daß die gemeinsame Unionswährung keineswegs eine so lukrative Anlagewährung zu werden verspricht, wie die Lobredner zumindest in Deutschland vor zwei Jahren verkündet haben, als es darum ging, dem stimmberechtigten Volk wie ebenso seinen stimmberechtigten Vertretern im Bundestag das Nachdenken und die Entscheidung darüber, ob die nationale Währung aufgegeben werden soll, so schnell wie möglich abzunehmen.

Wer von den großen Kapitalanlegern der europäischen Währungszone nicht beizeiten große Teile seines Vermögens in den Dollar transferiert hat, um sowohl von dem Kursniedergang des NASDAQ-Marktes durch Aktienkauf oder von den nun von der Federal Reserve angehobenen Zinsen zu profitieren, kann jetzt mit seinem Euro-Kapital beim Devisenumtausch in Dollar kaum mehr einen guten Schnitt machen. Es ist also für die Vermögensbesitzer in Euro nicht mehr so einfach, ihr Kapital zwischen New York und Frankfurt hin und her pendeln zu lassen. Die auch in Europa um sich greifende Skepsis gegenüber virtuellen Papierwerten von Kapital-Absaugern und oft genug auch Kapital-Vernichtern der »neuen Ökonomie« dient dann auch mitunter als bequeme Rationalisierung dafür, sich aus der riesenhaften Papierwertblase in den USA lieber herauszuhalten, weil man mittlerweile durchaus in breiteren Kreisen mehr fürchtet als nur das Ausschütteln der Tageshändler und Kleinanleger aus dem volatilen NASDAQ-Markt, nämlich einen wirklichen Krach, ein Platzen der größten Aktienblase des Jahrhunderts.

Werden die Marktfundamentalisten ihr Gettysburg erleben - noch vor den Präsidentschaftswahlen?

Die Geldversorgung durch die Federal Reserve Bank in den USA ist knapper geworden, gegenüber dem letzten Jahr steht weniger zusätzliche Liquidität zur Verfügung, um den Anstieg der Wertpapierinflation und die Fortdauer von Kursgewinnen an den Aktienbörsen zu gewährleisten. Zwischen den Kapitalmärkten Europas, der Vereinigten Staaten und auch Asiens hat ein Wettbewerb um Kapitalzuflüsse begonnen, bei dem vor allem das Interesse der Vereinigten Staaten überwiegt, ihr rasant wachsendes Leistungsbilanzdefizit durch stets neue Kapitaltransfers in einer heiklen Negativbalance zu halten, die solange (noch) keine verheerenden Wirkungen anrichtet, wie der Zufluß von Kapital in Dollar andauert.

Das Management des fiktiven Kapitals in den Vereinigten Staaten vollführt für den Rest des Jahres 2000, mindestens bis zu den Präsidentschaftswahlen, einen Seiltanz, bei dem der Chef des Schatzamtes (im Interesse der Wahlaussichten von Al Gore) »Hände weg von der Börse« ruft, um nur ja nicht der gierig gewordenen Mehrheit der amerikanischen Familien die Illusion zu nehmen, in den letzten vier Jahren immens reicher geworden zu sein, während das Orakel der Fed, Alan Greenspan, alle Sensoren auf Alarm stellen muß, um einzugreifen, wenn die Inflation der Wertpapiere in eine Inflation der Warenpreise umzuschlagen und zu explodieren droht.

Ein hochrangiger amerikanischer Wirtschaftsexperte hat Ende März einige wichtige Bemerkungen zur prekären Lage der Vereinigten Staaten verlauten lassen, die zu referieren und zu bedenken angebracht ist.

Er stellt fest, daß die Vereinigten Staaten nicht erwarten können, daß der Kapitalzufluß nach Amerika in einer Größenordnung anhält, die ausreicht, um die Vergrößerung des Leistungsbilanzdefizits zu kompensieren, dessen Anteil am gesamten Sozialprodukt der USA bereits im letzten Jahr 4% überschritten hat. Seiner Ansicht nach ist der Dollar bis heute nur deswegen stark geblieben, weil Auslandskapitalzuflüsse an den amerikanischen Aktien- und Anleihemärkten auf höhere Gewinne aus waren und dort Rekordsummen angelegt haben, wodurch das Defizit erträglich gehalten wurde. In demselben Augenblick, in dem diese Anlagen oder der Dollar selbst notleidend zu werden drohen, müßten die USA mit einem Nettoabfluß rechnen, der einen Fall des Dollarkurses und, schlimmer noch, eine lawinenartige Flucht aus dem Dollar wie 1979, als Paul Volcker Notenbankchef wurde und die Zinsen in atsronomische Höhen trieb, nach sich ziehen müßte.

Der Wirtschaftsexperte schlug in seinem Vortrag dann eine »koordinierte« Korrektur dieses globalen Ungleichgewichts vor dergestalt, daß Japan und die Europäische Union Beistand leisten, indem sie in ihrem jeweiligen Wirtschaftsbereich Wachstumsanreize geben müßten, um steigende US-Exporte aufzunehmen und damit das Handelsdefizit der USA zu verringern. - Es sieht nicht danach aus, als könnten sich die wichtigsten Staaten der Europäischen Union zusammen mit der Europäischen Zentralbank zu dieser Art von Beistand bereitfinden. Schließlich genießt doch die europäische Exportwirtschaft wenigstens eine angenehme Seite des gesunkenen Euro-Wechselkurses: die bessere Wettbewerbslage im Vergleich mit der japanischen und amerikanischen Industrie. Und wie man von Japan, das seit drei Jahren mit riesigen Konjunkturprogrammen und der verwegensten Staatsverschuldung nichts anderes versucht als wenigstens die einheimische Wirtschaft anzukurbeln, erwarten kann, daß es bei der Verbesserung des amerikanischen Handelsdefizits irgendwelche Hilfestellung geben könnte, wird auch der Wirtschaftsexperte nicht erläutern können.

Dieser Wirtschaftsexperte ist übrigens der Präsident der New York Federal Reserve, William McDonough, der Krisenmanager bei der Beinahekatastrophe des Hedge Funds Long Term Capital Management; er spricht manchmal öffentlich Klartext und ist insofern ein alter ego von Alan Greenspan, der mitunter noch schwerer zu deuten ist als die Pythia von Delphi. Seine Rede hat er am 30. März im Japan Center for Economic Research in Tokyo gehalten und die Zusammenfassung seiner Lagebeschreibung der Wirtschaft der Vereinigten Staaten lautet im Originalton:

    »As a central banker, I cannot help but register concerns about some recent developments. ..Signs of imbalance or strain have begun to appear in the US economy, especially in relation to the world economy. Commodity prices - and not just oil prices - have increased rapidly in recent months, as world growth has bounced back sharply in 1999...«

McDonough fährt fort:

    »The US current account deficit has also widened markedly over the past several years , with corresponding large surpluses in Asia and Europe. The outlook is for continued worsening in the deficit that had already reached a record 4% of GDP last year. History tells us that such imbalances can persist for some time, but increase in risk as they widen. History also tells us that current account imbalances eventually require macroeconomic adjustment - adjustment that is smoother and more orderly the earlier and more coordinated the policy response.«

Die Einsichten des Präsidenten der New Yorker Fed sind innerhalb von zwei Monaten auch in den Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen vorgedrungen, werden dort aber in die beschwichtigende Watte einiger »positiv denkender« Analysten gepackt. Gleichwohl ist die Beschreibung der Lage in den Vereinigten Staaten alarmierend genug:

    »Im Zuge des langen Wirtschaftsaufschwungs haben sich Ungleichgewichte entwickelt, die amerikanische Ökonomen mittlerweile mit Sorge erfüllen. Das Leistungsbilanzdefizit dürfte in diesem Jahr auf fast 4,5% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) klettern. Die Verschuldung der Unternehmen liegt bei 63 Prozent des BIP im Vergleich zu nur 56 Prozent im Jahre 1994. Die Kredite, die die Amerikaner für den Aktienkauf aufgenommen haben, sind zum Jahresende 1999 auf 220 Milliarden Dollar gestiegen. Vier Jahre zuvor lage sie noch bei 76,7 Milliarden Dollar und 1997 bei 126 Milliarden Dollar. Auch die hohen Börsenwerte - der Gesamtwert der Aktien ist mit 170 Prozent des BIP dreimal höher als die Aktiva der Banken - deuten auf eine wachsende Verwundbarkeit der amerikanischen Wirtschaft hin. Die vielfältigen Risiken lassen die Frage berechtigt erscheinen, ob unvorhergesehene Schocks in den Vereinigten Staaten - ähnlich wie in Mexico 1995 und Südostasien 1997 - eine Finanzkrise auslösen und zu einer >harten Landung< der Wirtschaft führen könnten. ...« (C.K. in FAZ vom 21. Mai 2000)

Entscheidend ist, daß die bedrohlichen Entwicklungen, die sich in den Vereinigten Staaten und damit für die globale Wirtschaft abgezeichnet haben und die Seiltänzer des Kapitalmanagements bereits lebensbedrohlich ins Schwanken bringen, in naher Zukunft zum Ausbruch kommen können, um dann alle eng an den Dollar gebundenen »Volkswirtschaften« in den Abwärtsstrudel zu reißen. Es könnte zum Beispiel schon geschehen, wenn Präsident Clinton von seiner Europareise im Juni preisgeschmückt und frohgemut zurückgekehrt ist, um dann mit seinem eigenen Wahlslogan von 1992, mit einer leichten Abänderung, konfrontiert zu werden: »It`s the real economy, not just the new economy, stupid.« Die Realwirtschaft wird dann, wenn die Blase geplatzt ist, allerdings nach dem Kollaps der aufgeblähten Papierwerte und Eigentumstitel, der sogenannten »Akquisitionswährungen«, unter allerlei wertlosem Papier zunächst begraben werden.

Wie sich aus diesem Müllberg die Familien, deren Aktiengewinne und Pensionserparnisse dann verpufft, und die Unternehmen, deren Kapitalmarktwerte dann um ein Vielfaches geschrumpft sein werden, weiter finanzieren sollen, ist eine Frage, die in der Geschichte des 20. Jahrhunderts schon einmal beantwortet werden mußte. Die unangefochtene politische und wirtschaftliche Vormachtstellung der Vereinigten Staaten von Amerika unter Franklin D. Roosevelt und das Währungssystem von Bretton Woods waren Elemente einer Antwort, deren Ergebnisse der Weltwirtschaft bis Mitte der 60er Jahre einen langanhaltenden Wiederaufbau, ja sogar den aus der Kolonialisierung befreiten Ländern bis zu einem gewissen Grade Entwicklung ermöglicht haben.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sieht es nicht so aus, als könnte sich im Bürgerkrieg der souveränen verfaßten Gemeinwesen gegen den Marktfundamentalismus von Oligarchie und Anarchie des globalen Kapitals ein Konsens der Staaten ergeben, der den »Konsens von Washington« außer Kraft und neue Regeln für die internationalen Wirtschaftsbeziehungen in Geltung setzt. Eine neue internationale Finanzarchitektur jenseits des IWF, ein neues Währungssystem wird es geben müssen - vor oder nach der Katastrophe.