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35. Jahrgang InternetAusgabe 2001
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Sir H. A. Kissinger

   

Globalisierung und die Rationierung des Rechts auf Leben

Von Georg P. Christian

 

  Der ehemalige Botschafter der Vereinigten Staaten beim Vatikan, Raymond Flynn, berichtet in seinem Buch „John Paul II: A Personal Portrait of the Pope and the Man“ (New York 2001) einen Vorfall, der unter anderem zeigt, wie höfisch es in Washington um einen jeden Präsidenten herum zugehen und wieviel einem jeden Präsidenten dadurch vorenthalten werden kann.

 Im April 1994, einige Monate vor der bevorstehenden Konferenz der Vereinten Nationen über Bevölkerung und Entwicklung in Kairo berief der Papst den Botschafter Flynn in aller Form zu sich und teilte ihm mit: „Herr Botschafter, ich glaube, es ist notwendig, daß ich mit Ihrem Präsidenten spreche.“ Flynn zufolge wußte der Papst, daß das Weiße Haus dieses Ersuchen nicht so ernst nehmen würde, wenn der Botschafter es von einem anderen Vatikanbeamten übermittelt bekommen hätte; daher war es wichtig für das Weiße Haus zu wissen, daß dieses Ersuchen direkt vom Papst kam. Er nahm an, daß dies eine Gewähr böte, daß ein Zusammentreffen auch stattfinden würde. Weder der Papst - noch Flynn - ahnten, wie schwer es fallen würde, dieses Treffen anzubahnen.

 Raymond Flynn beschreibt dann einen fünf Tage dauernden Kampf, bei dem ihm die Augen geöffnet wurden, überhaupt nur darum, Präsident Clinton mitteilen zu dürfen, daß der Papst ihn zu sprechen wünsche. Nach drei Tage anhaltenden Versuchen, den Präsidenten über das Ersuchen des Papstes zu informieren, kam der Botschafter zu dem Schluß, daß es auf Seiten des Stabes im weißen Haus nicht Inkompetenz war, die die Überbringung des Ersuchens vereitelte, sondern bewußtes Abblocken. Flynn schreibt: „Dienstag morgen hatte ich genug. Ich setzte mich ins Flugzeug, flog nach Washington und fuhr direkt vom Flughafen ins Executive Office des Weißen Hauses. Dort sagte ich der Präsidentensekretärin, daß ich ihren Boss sprechen müsse; auch wenn ich keinen Termin hätte, würde ich solange warten... .“

 „Am Ende meines zweitägigen Sit-Ins wurde ich in den Situation Room des Weißen Hauses gerufen. Verschiedene hohe Berater waren dort versammelt. ... Der Assistant Secretary of State Tim Wirth führte in dem sogenannten Meeting den Vorsitz. ‚Botschafter Flynn‘, sagte er, ‚ es gibt eine ganze Anzahl von Ländern, die über den Entschließungsentwurf der Konferenz in Kairo Bedenken geäußert haben. Aber der Präsident hat es mir und meinem Stab überlassen, mit anderen Ländern zu verhandeln. Nobody is getting the chance to lobby the President on this one.‘“

 Zuguterletzt ist es dann dem Botschafter doch noch gelungen, zum Präsidenten selbst vorzudringen und ihm den Gesprächswunsch des Papstes zu überbringen. Clintons Antwort: „I`d love to talk to him.“


National Security Study Memorandum 200
Bevölkerungskontrolle zur nationalen Sicherheit

 Das Programm für die Bevölkerungskonferenz wurde bereits 20 Jahre zuvor entworfen, in einer ungefähr 90 Seiten langen geheimen Studie des Nationalen Sicherheitsrates der USA samt seinen zahlreiche Unterausschüssen. Dort gelangten die vielfach widerlegten Thesen aus dem Schulungsbuch des Thomas Malthus für die Commis der East Indian Company zu neuer, global folgenschwerer Aktualität. Hohe Regierungsbeamte der USA und angesehene Vertreter des Establishments bekannten vor der Öffentlichkeit, sie seien überzeugte Neomalthusianer. Nirgends jedoch zeigte sich die Besessenheit von Malthus`Essay über das Bevölkerungsgesetz so brutal wie im Nationalen Sicherheitsrat.

 Am 24. April 1974, auf dem Höhepunkt der Ölkrise, unterschrieb der Sicherheitsberater des Weißen Hauses ein Memorandum, das die Grundlinien der US-Politik für die nächsten Jahre festlegte. Das „National Security Study Memorandum 200“ trug den Titel „Auswirkungen des weltweiten Bevölkerungswachstums auf die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihre Interessen in Übersee“. Es richtete sich an alle Kabinettsmitglieder, an den Generalstab und die verantwortlichen Leiter der CIA und anderer Dienste der USA. Am 16. Oktober 1975 bestätigte Präsident Gerald Ford auf Betreiben seines Außenministers in einem weiteren Memorandum die Notwendigkeit „amerikanischer Führung in Sachen Weltbevölkerung“. Es bezog sich im wesentlichen auf das geheime Memorandum NSSM 200. Diese Ausführungsverordnung machte zum ersten Mal in der Geschichte der Vereinigten Staaten den Malthusianismus zur Leitidee der Sicherheitspolitik der amerikanischen Regierung.

 Die beiden US-Memoranden argumentierten, das Bevölkerungswachstum in den Entwicklungsländern, die an die Schwelle zur Industrialisierung heranrückten und in denen wichtige Rohstoffquellen lagen, stelle eine „potentielle Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA“ dar. NSSM 200 warnt davor, daß diese Länder unter dem Druck ihrer wachsenden Bevölkerung von den USA für ihre Rohstoffe höhere Preise und für sie günstigere Handelsbedingungen durchsetzen könnten. Es listet dreizehn Länder auf, die sich als „strategische Ziele“ für amerikanische Initiativen zur Bevölkerungskontrolle anböten. Die Liste, die der Chef des Nationalen Sicherheitsrates, vermutlich wie so oft nach Konsultationen mit dem britischen Außenministerium, zusammengestellt hatte, ist aufschlußreich.

  Zitat aus dem Memorandum: „Um wieviel wirksamer sind Ausgaben für Maßnahmen zur Bevölkerungskontrolle als Investitionen, die die Produktion anheben, zum Beispiel Investitionen in Bewässerungsanlagen, Kraftwerke und Fabriken.“ Imperialisten des 19. Jahrhunderts hätten sich nicht deutlicher ausdrücken können. Damit hatte sich die US-Regierung einem politischen Programm verschrieben, das den Abbau der eigenen gewerblichen Wirtschaft in Kauf nahm und dem Rest der Welt Hunger, Elend und vorzeitiges Sterben verordnete. Als wichtigste Opfer der Maßnahmen zur Bevölkerungskontrolle nennt die Studie die Länder in der Reihenfolge: Brasilien, Pakistan, Indien, Bangladesch, Ägypten, Nigeria, Mexiko, Indonesien, die Philippinen, Thailand, Türkei, Äthiopien und Kolumbien. Über die überwiegend nicht „aufstrebende“ Entwicklung dieser Länder seit 1974 kann man sodann ins Grübeln geraten.

  Damit es nicht in Vergessenheit gerät: Urheber des Memorandums und verantwortlich dafür, daß es für die US-amerikanischen Sicherheitsdoktrinen verbindlich wurde, ist niemand anders als Sir Henry A. Kissinger.

 Er wird am 11. September, dem Jahrestag des Sturzes der Regierung Allende in Chile, vor einem ausgesuchten Auditorium in der Frankfurter Alten Oper über die „Auswirkungen der Globalisierung auf die Wirtschaft“ referieren. Vermutlich wird ihn dort niemand fragen, wie er heute steht zu dieser mit einigem Grund als rassistisch zu kennzeichnenden Richtungweisung für die amerikanische Politik gegenüber dem Lebensrecht der Bevölkerungen auf den potentiell reicheren Teilen der Erdkruste. NSSM 200 ist zwar 1989 zur Veröffentlichung freigegeben worden, von einem öffentlichen Widerruf dieser „Bevölkerungsdoktrin“ ist jedoch nichts bekannt. Könnte es sein, daß es unter anderem Auskunft über die Gültigkeit dieser Doktrin war, die der Papst von Präsident Clinton zu erhalten begehrte?

 (11. September 2001, gegen 15 Uhr 45, Frankfurt am Main, Alte Oper) - Video Real Player

  

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