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35. Jahrgang InternetAusgabe 2001
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Orient und Okzident in Weimar:


»In der Welt des Menschen gibt es kein absolutes Anderssein«


von David Hartstein

  Samuel Huntingtons Veröffentlichung des »Clash of Civilizations and the remaking of World Order« ist in den letzten Jahren als »Leittext« bei vielen Deutungsversuchen zu »Weltperspektiven« im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert eine unverhältnismäßig beifällige Resonanz zuteil geworden. Das könnte darin begründet sein, daß Huntington seit den siebziger Jahren, mit Veröffentlichung seiner Schrift über die »Krise der Demokratie« unter der Schirmherrschaft der Trilateralen Kommission, mindestens bei der englischsprachigen Intelligenz, die Stellung eines Auguren einnimmt, dessen Gesellschaftsbeschau gerade so vage ausfällt, daß es ihr mühelos gelingt, auf dem schmalen Grat zwischen Analyse und Vorhersage von Entwicklungen munter mutmaßend einher zu spazieren. Auf Genauigkeit und das Durchdenken von Verhältnissen kommt es diesem spekulativen Empirismus so wenig an wie beispielsweise den überragenden Analysten des an der Wall Street führenden Investmentbankhauses Goldman Sachs, wenn sie nach einem Einbruch der Aktienmärkte von neuen hohen Kurszielen schwärmen. Samuel Huntington ist der Analyst unter den Harvard-Gelehrten. Daher rührt auch die Faszination, mit der eine solche Veröffentlichung sich auf dem Weg über »International Affairs« bis in die Besprechungen von Zeitungen und Erörterungen in Seminaren rund um die Welt Leser und »Anwender« schafft. Denn von den »Prognosen« des Analysten erwartet sich der Anwender Gewinn; der Zweck der wie auch immer zusammengeschusterten Empirie ist stets ein Trend oder nur ein Tip für die nächste Spekulation.

 Die meisten Anwender dieses Leittextes von Huntington sind zunächst in der »Davos-Kultur«, ein »Derivat« des Zauberbergs, zu finden, die sich alljährlich zum World Economic Forum trifft. Huntington selbst charakterisiert diese »Kultur« so:

»... wo Hunderte von Regierungsbeamten, Bankiers, Geschäftsleuten, Politikern, Akademikern, Intellektuellen und Journalisten aus aller Welt zusammenkommen. Fast alle diese Leute besitzen Universitätsdiplome in den physikalischen Wissenschaften, Sozialwissenschaften, Wirtschafts- oder Rechtswissenschaften; arbeiten Sie mit Wörtern und/oder Zahlen; sprechen verhältnismäßig flüssiges Englisch; sind bei Regierungen, Unternehmen und akademischen Institutionen mit weitreichenden internationalen Beteiligungen beschäftigt; und reisen häufig außerhalb ihres eigenen Landes. Sie teilen im allgemeinen den Glauben an Individualismus, Marktwirtschaften und politische Demokratie, die auch unter den Menschen der westlichen Zivilisation allgemein sind. Die Leute von Davos kontrollieren praktisch alle internationalen Institutionen, viele Regierungen und den Großteil der ökonomischen und militärischen Kapazitäten der Welt. Die Davos-Kultur ist daher ungeheuer wichtig. Weltweit jedoch hat nur ein kleiner Teil der Bevölkerung der Welt an dieser Kultur teil. Sie ist weit von einer Universalkultur entfernt, und die Führer, die sich daran beteiligen, haben nicht unbedingt einen sicheren Zugriff auf die Macht in ihren eigenen Gesellschaften. Nichtsdestoweniger haben wir es hier mit einer immens bezeichnenden Folge der Globalisierung ökonomischer Aktivität zu tun, die in letzten Jahrzehnten aufgetreten ist.«

 Auf diesem Zauberberg des anbrechenden 21. Jahrhunderts würden sich die Teilnehmer, nach einer treffenden Kennzeichnung ihrer Gemeinsamkeit befragt, darauf einigen, daß sie alle »reformorientiert« und jedenfalls irgendwie »modern« seien. Und deswegen würde ihnen auch Huntington zugestehen, daß sie Teil einer kulturellen Vereinigung sind, die aus der »westlichen« Kultur herausgewachsen ist. Denn nach seiner Lesart bestanden vor 500 Jahren »viele verschiedene Kulturen, doch alle waren traditionelle Kulturen, nicht moderne. Die ökonomische und soziale Modernisierung begann damals in der westlichen Gesellschaft und seither entstand eine größere Lücke zwischen der westlichen Gesellschaft und den nicht-modernen, nichtwestlichen Gesellschaften.«

 Genau in dieser Lesart tut sich die nicht unbeträchtliche Lücke zwischen dem Gewerbe eines Analysten und der forschenden Arbeit eines Analytikers auf. Die Mühe der Forschung (oder wenigstens des Nach-Lesens) ist dem Auguren zuviel Arbeit, er begnügt sich mit den ererbten westlichen Vorurteilen und wuchert mit diesen Pfunden. Welche Gedanken und Spekulationen über die Welt, welche Erfindungen und Taten in der Welt aber waren denn vor 500 Jahren in der »westlichen Gesellschaft« modern? Und wo, wie und wann ist diese »westliche Welt«, deren janusköpfige geschichtliche Karriere Andre Gunder Franks Buch »reOrient« von Mythologie und Vorurteil zu entkleiden unternommen hat, konzipiertworden?

 Die Antwort auf alle drei Fragen ist aktenkundig. Nämlich bei Paolo dal Pozzo Toscanelli, des Studienfreundes, Weggefährten und Gesprächspartners Nikolaus von Kuesens. Sogar der Tag läßt sich genau angeben, an dem das Denken in der europäischen Gesellschaft modern, also westlich wurde, weil es sich nämlich erstmals eine Vorstellung und einen Begriff von Welt bildete, der über die Grenzen seines mittelalterlichen Weltbewußtseins hinaus griff. Dieser Gedanke, der über den Horizont Europas hinauswies, war nicht etwa lediglich der »ideelle Ausdruck« eines vormodernen status nascendi, wie Materialisten diesen Geschichtsaugenblick verballhornen würden. Es war die in einem Brief ausgeführte vernünftige Spekulation einer einzelnen Person, die sich dieses Gedankens bemächtigt hatte, so wie der souveräne Geist dieser Person vom cusanischen possest erhaucht worden war.

 Dieser Tag war der 25. Juni 1474, an dem Toscanelli seinen Brief über den neuen Weg, Asien zu erreichen, an den zukünftigen Beichtvater des portugiesischen Königs Afonso in Florenz abfaßte. Wir gehen wohl nicht allzu fehl in der Annahme, diesem Brief die Bestrebung zuzuschreiben, die Verbindung zu einer Welt, der Welt Asiens und des Orients, und damit die damals bekannte oder geahnte Welt im ganzen, wiederzugewinnen. Die lange währende Beherrschung dieser Verbindung durch Venedig und ihre Verschließung durch die Eroberung von Byzanz durch die Türken stellten sich dem denkenden Europa in Florenz als Mangel und Verarmung dar, als Verlust mannigfacher, wenn auch nur dünner und leicht zerreißlicher Verbindungsfäden zu einer Welt, die gegenüber der europäischen so unermeßlich weiter entwickelt, reicher und bestaunenswert zu sein schien - und deren Erfahrung es bedurfte, um die ganze Welt der Natur und des Menschen kennen und erkennen zu können. Ein solches Streben verband die Toscanelli, Cusanus, Piccolomini, Bessarion, die für wenige Jahre nur in Italien den Geist der Christenheit an ihrer Spitze prägten, zuallerst miteinander. Kurz, die Lektüre des Briefes von Toscanelli, dessen Ziel später für Kolumbus zum geistigen Kompaß seines Weltverständnisses, seiner Unternehmung und ihres (dennoch mißverstandenen) Erfolges wurde, kann uns belehren, daß die »Moderne« im europäischen Bewußtsein als Spekulation und Antizipation einer Welt Einzug hielt, die es in vielerlei Bedeutung erst noch zu erreichen galt.

 

De Idiota de Mente:

Connata religio, quae hunc innumerabilem populum in hoc anno Romam et te philosophum in vehementem admirationem adduxit, quae semper in mundo in modorum diversitate apparuit, nobis esse naturaliter inditam nostare mentis immortalitem ostendit, ut ita nobis nota sit nostrae mentis immortalitas ex communi omnium indubitata assertione sicut nostrae naturae humnaitas. Non enim habemus certiorem scientiam nos esse himnies quam mentes habere immortales, cum utriusque scientia sit communis omnium hominum assertio.

Nicolai de Cusa, ob iubilaeum anno 1450


Wißbegier und Begehrlichkeit

 Was Toscanelli dem künftigen portugiesischen König hier nahezubringen und vorzuschlagen versucht, ist eine sorgfältig erdachte und berechnete Spekulation und Hypothese, die praktisch zu überprüfen er der portugiesischen Seefahrt als dringend erwünschte Alternative zur Suche des Seewegs nach Indien entlang der afrikanischen Westküste anrät. Die gelassene Gewißheit, mit der er sich Bestätigungen seiner Vorstellungen und neue Entdeckungen für seine Wißbegier erwartet und erhofft, überlagert sich mit den Schilderungen von prächtigen und beeindruckenden Kostbarkeiten, die den einzuschlagenden Weg und das zu erreichende Ziel dem Oberhaupt einer dynastisch verfaßten Handelsorganisation verlockend machen müssen. Die Bereitschaft, seine Hypothese zu überprüfen, wird der Zugkraft der Begehrlichkeit in die erwünschte Richtung ausgesetzt.

 Ohne die Verheißung der unbegrenzten Aneignungen, der dauernden und stets erneuerten Inbesitznahme wäre das »Europa der Neuzeit« wohl kaum vom westlichen Zipfel des eurasischen Erdteils zum unaufhörlichen Zug nach Westen, der als Weg zum Osten gedacht war, aufgebrochen und mit den Ergebnissen und Wirkungen dieses jahrhundertelangen Aneignungszuges »modern« geworden.

 Den geistigen Wegbereitern der Neuzeit in der italienischen Renaissance, den Humanisten, ist bei diesem Aneignungszug nur wenig Ertrag zuteil geworden, wenn man ihnen die Erwartung zuschreibt, daß die wahre Menschheit erst dann erkannt werden könnte, wenn sie in ihrer Vielfalt als Einheit gekannt und erfahrbar werden würde. Denn der Zug nach Westen, die Herausbildung der neuzeitlichen Aneignungsgesellschaft unter und durch europäische Suprematie, wurde nur in winzigen Momenten vom Verlangen nach Austausch mit Menschen, durchdringend aber vom gewinnbringenden Tausch von Dingen bestimmt.

 Auch Marx erschien diese Dynamik vor Zeiten kaum als modern, als er fünf Jahre vor Abfassung des kommunistischen Manifestes, dessen einleitende Abschnitte heute ganz gern mit gusto von den Bestaunern der Globalisierung zitiert werden, das System Europa auf den Begriff bringen wollte:

»Das System des Erwerbs und des Handels, des Besitzes und der Ausbeutung der Menschen führt aber noch viel schneller als die Vermehrung der Bevölkerung zu einem Bruch innerhalb der jetzigen Gesellschaft, den das alte System nicht zu heilen vermag, weil es überhaupt nicht heilt und schafft, sondern nur existiert und genießt.«

 Das »System des Erwerbs und des Handels« der westlichen Zivilisation befindet sich seit dem Ausgang des Ersten Weltkrieges in einem nur von wenigen Entspannungsphasen gemilderten Ausnahmezustand und ganz gewiß seit dem Ausgang des Zweiten Weltkrieges im permanenten Belagerungszustand. Belagert wird die westliche Welt, das Imperium des Westens, von einer Peripherie, der sie selbst im Zuge ihrer jahrhundertelangen Akkumulation Wertmaßstäbe, Begehrlichkeiten und Lehren aufgezwungen hat, die mittlerweile begriffen worden sind und die sie jetzt als Ansprüche, als Rechte wahrzunehmen bedrängt wird. Diese Ansprüche und Erklärungen von Rechten, denen die Alliierten des Zweiten Weltkrieges unter der Anleitung Franklin Roosevelts obendrein die Vereinten Nationen als allgemein gültige Satzung und als Vertretungsorgan hinterlassen haben, kann der moderne Westen nur dann von sich weisen, wenn er zur allerkühnsten Hybris und einem jahrhundertelang bei sich selbst genährten epochalen Vorurteil Zuflucht nimmt, daß die westliche Zivilisation und ihre Bewohner, darunter insbesondere die vermögenden Bewohner, sich durch ihre überlegene Kultur das Recht erworben haben, den Menschen anderer Zivilisationen und Kulturen nicht alle und nicht die ganzen Menschenrechte zuzugestehen. Dieses Vorurteil hat unter anderem die vergiftete Blüte getrieben, daß der Malthusianismus westlicher Globalplaner und ihrer Satelliten in den Vereinten Nationen sich das Urteil darüber anmaßt, in welchen Nationen welcher Zuwachs an Bevölkerung, also an Menschen, zulässig ist. Der Entstehung der Grundannahmen wie auch der Organisationen zur »Bevölkerungsplanung« lagen jedenfalls nicht Leben, Freiheit und Streben nach Glück als kurzgefaßte Inbegriffe der Menschenrechte zugrunde. Der Westen ist nach Außen und nach Innen so weit gekommen, daß er das Recht auf Leben rationiert.


Belagerung und Zusammenstoß

  Kann es einen Zweifel daran geben, daß dieser trübe Bewußtseinszustand belagerter Suprematie im Westen zu Zusammenstößen mit anderen Zivilisationen oder Nationen führen muß, wenn das alte System nur existiert und genießt, aber bei allen technischen Innovationen weder heilt noch neue globale Bedingungen für alle schafft?

 Huntington, der Augur des Westens, will sein eigenes Analystengutachten herabstufen, indem er die Besorgnis seiner Zuhörer bei einem Vortrag vor der Universität von Colorado dämpft:

»Von vielen Leuten wird mein Argument aufgrund dessen kritisiert, daß es sich wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung auswirke, etwa dahingehend, daß, weil ich sage, daß Zusammenstöße zwischen Zivilisationen existieren und sie sich intensivieren können, damit auch argumentiere, daß sie auftreten sollten. Das ist jedoch eindeutig nicht der Fall, und keine Prophezeiung ist in sich selbsterfüllend oder nicht sich selbst erfüllend. Es hängt davon ab, wie Leute darauf reagieren. ...

 Cum grano ironiae mag man dann seine Genugtuung darüber zur Kenntnis nehmen, daß sein Aufsatz von 1993 und sein Buch von 1996 letzten Endes, ihm sehr willkommen, als Aufruf und Initiative gewirkt haben, von anderen aufgegriffen, um den zu befürchtenden »Clashes« zu wehren.

»Ich bin erfreut, daß, seit ich zuerst vor den Gefahren von Zusammenstößen zwischen Zivilisationen warnte, bei vielen Leuten die Besorgnis, solche Kollisionen zu verhindern und einzudämmen, gewachsen ist. Politische Führer, wie die Präsidenten von Deutschland, der tschechischen Republik und Irans haben ausdrücklich zu einem Dialog der Zivilisationen aufgerufen. Als Folge der iranischen Initiative haben die Vereinten Nationen das Jahr 2001 als das Jahr des Dialogs der Zivilisationen bestimmt. Und im Rahmen meiner eigenen bescheidenen Bemühung habe ich Konferenzen und Seminare an Harvard organisiert, an denen Teilnehmer verschiedener Zivilisationen beteiligt sind, um zu erkunden, wie ihre Unterschiede überwunden und ihre Gemeinsamkeiten vertieft werden können.«

 Gleichwohl befürchtet unser Augur, geschult in Henry Kissingers Methode der Wahrnehmung von Macht, doch nichts weniger als das Schlimmste für das 21. Jahrhundert:

»Die wichtigste Achse der Weltpolitik werden die Beziehungen zwischen dem Westen und dem Rest bilden, indem der Westen den anderen Gesellschaften seine Werte und seine Kultur aufzuerlegen versucht, obgleich seine Fähigkeit dazu abnimmt.
In dieser neuen Welt würden sich die die gefährlichsten Konfliktformen zu Kriegen zwischen Kernstaaten, zwischen den größeren Staaten der verschiedenen Zivilisationen auswachsen. Die Hauptquellen dieser Konfliktformen und daher auch von politischer Instabilität werden der Wiederaufstieg des Islam und der Aufstieg Chinas sein. Die Beziehungen des Westens mit diesen ihn herausfordernden Zivilisationen - Islam und China - werden wahrscheinlich besonders schwierig und antagonistisch sein. Der potentiell gefährlichste Konflikt ist der zwischen den Vereinigten Staaten und China.«

 Das »moderne Europa« (Portugiesen, Holländer, Briten) hat sich seit 1500, als nach der Lesart von David Landes die Portugiesen bewiesen haben, daß Europa »... sich nun an jedem beliebigen Ort auf der Erde festsetzen...« konnte, »... der in Reichweite von Schiffskanonen lag«, 450 Jahre lang daran abgearbeitet, die Beherrschung des Chinesischen Meeres, des Indischen Ozeans und des »Reichs der Mitte« zu erlangen, ein »Mandat des Himmels«, das ihm nun den Ahnungen Huntingtons zufolge zu entrinnen droht. Jener Konflikt, den er der Möglichkeit nach für den gefährlichsten ansieht, zwischen den Vereinigten Staaten und China, ist aber nur der zwischen einem Vorurteil, das einem westlichen Mandarin wie Huntington in die kleinsten Nischen seines Bewußtseins eingesenkt ist, und einer universalen Wirklichkeit, die von geopolitischer Fehlwahrnehmung, wie er sie eingeübt hat, nicht erkannt werden kann: daß Macht, als Vermögen, letztlich doch nicht »in Reichweite von Schiffskanonen« liegt, wiewohl sie selbst die Wirkung eines solchen technischen Vorsprungs sich eine Zeit lang aneignen und ausüben kann, aber damit nichts heilt, nichts schafft.

 Es ist somit eher ein Widerspruch und -streit im westlichen Bewußtsein selbst - in seinem gegenwärtigen Belagerungszustand. Alle Dinge in der »Reichweite von Schiffskanonen« lassen sich wohl niederringen, erobern, aneignen und niederhalten, über Kulturen dagegen vermag das »westliche Mandat des Himmels« wenig, weil sie tiefer verwurzelte und wirklichere Produktionen des Menschen sind als die von Schiffskanonen und Kapital. Sie sind individuelle Produktionen des cusanischen possest im Ganzen der Menschheit. Und deswegen wäre ein »Zusammenstoß der Zivilisationen«, wovor sich Mandarine wie Huntington fürchten, nur ephemer, weil und solange diese Mandarine an dem begehrten und mit Dollars eingetauschten Mandat des Himmels festhalten.


Ein Beben, das nach einer Beruhigung sucht

  Wenn Huntington erfreut feststellt, daß die Präsidenten einiger Länder sein Anliegen aufgegriffen und zum »Dialog der Zivilisationen« aufgerufen haben, blendet er freilich aus oder übergeht nahezu gönnerhaft die Tatsache, daß weder der deutsche noch der tschechische Präsident, und erst recht nicht der iranische Präsident Khatami die Welt des 21. Jahrhunderts unter dem Zwang der geopolitischen Deutungsstrukturen betrachten, sondern von einem sehr praktischen Vorurteil ihre Perspektive aufhellen lassen: daß nämlich den Kulturen und Religionen viel mehr gemeinsam ist, als sie gegeneinander als ihren Alleinbesitz in Anspruch nehmen könnten.

 Für den iranischen Präsidenten ist dies eine Selbstverständlichkeit. Nicht selbstverständlich ist dagegen, und dies bezeugt seine Weitsicht zurück in die Momente der europäischen Geschichte, daß er sein Unternehmen der Wegbereitung des »Dialogs der Kulturen« außerhalb seines Landes gerade da beginnt, von wo Europas Modernität ihren Ausgang nahm: in Florenz. Dabei schien er zu unterstellen, daß wenn Europa noch der Selbstreflexität fähig wäre, dort der geeignetste Ort zu finden sein müßte, um das europäische Bewußtsein an seine Entstehungsbedingungen und -bedingtheiten zu erinnern.

»Wer auch nur über die Geschichte der Philosophie reflektiert, wird zum Zeugen einer ständigen Bewegung von einem Extrem zum andern. Das neueste Glied in dieser Kette ist der Begriff der »Modernität«. Das Wort »Modernität«, welches anscheinend das modernste Derivat dieser Gruppe von Wörtern ist, leitet sich ab vom lateinischen »modernus« und kam anscheinend zum ersten Mal während des 19. Jahrhunderts in Mode. Doch die Wurzel dieses Wortes hat fünfzehn Jahrhunderte Gebrauch hinter sich.

Erst im 19. und 20. Jahrhundert kam dieses Wort zur Anwendung auf einen weiten Bereich von Vorstellungen in der Philosophie, Kunst, Wissenschaft, Geschichte und Ethik. Der gemeinsame Nenner aller dieser Bezeichnungen rührt von einem Beben her, das die Grundlagen menschlichen Daseins und Denkens gegen Ende des Mittelalters erschütterte, ein Beben, das die Achse veränderte, um die Menschheit und Welt sich drehten. In dem Maße, in dem die Welt des Menschen von seinen Gedanken beeinflußt wird, ist der zeitgenössische Mensch und seine Welt das Ergebnis dieser »modernen« Achsverlagerung, die nach dem Mittelalter in Erscheinung trat. Diese neue Achse, die in jenen Tagen als »Moderne« bezeichnet wurde, ist uns heute als die Renaissance bekannt. Trotz zahlreicher Bücher und Traktate, die veröffentlicht worden sind, um die Heraufkunft der Renaissance zu erklären, besteht Bedarf an tieferem Nachdenken von Philosophen, Historikern und Gelehrten über dieses einmalige Geschehen. Wie von vielen Denkern aufgezeigt wurde, suchte die Renaissance nicht allein die griechische Kultur zu erneuern; vielmehr war es ihr Hauptziel, die Religion in einer verjüngten Sprache und aus einer verjüngten geistigen Perspektive zu erörtern. Die Renaissance beschrieb den religiösen Menschen in einer Weise, die ihn, statt ihn von der Welt abzuschließen, um diese zu schmälern und zu unterdrücken, dahin bringen würde, ihr ins Angesicht zu blicken.

Wie die Renaissance ihn sah, ist das Wesen des religiösen Menschen der Welt gegenüber zugänglich, und die Welt empfängt ihn mit offenen Armen. Die reziproke Öffnung von Welt und Mensch füreinander ist das grundlegendste Kennzeichen der Renaissance - ein im Wesentlichen religiöses Ereignis, das auf die Bewahrung, Reformation und Fortpflanzung der Religion gerichtet war statt auf den Widerstreit und den Widerspruch gegen sie.

Doch diesem epochemachenden Geschehen widerfuhr ein Schicksal, das sich beträchtlich von dem unterschied, was die Renaissance ursprünglich beabsichtigt hatte. Das Konzept der Eröffnung der Welt für den Menschen schlug um in Unterdrückung, Vorherrschaft und Unterjochung der Welt, einem nicht nur auf die Natur beschränkten Prozeß, sondern einem, dessen Flammen auch die menschliche Gemeinschaft ebenso verschlangen. Was sodann als »Kolonialismus« in der sozialen und politischen Geschichte Europas bekannt wurde, war das Ergebnis der Ausdehnung der Herrschaft des Menschen über die Natur und der Anwendung der Wissenschaft von der Natur auf den Menschen und die Wissenschaften vom Menschen. An diesem Punkt kann man die Erzählung von der »Modernität« nicht bedenken und studieren, ohne eine humanistische und moralische Haltung einzunehmen.«

 Soweit einige längere Abschnitte aus der Ortsbesichtigung, die Präsident Khatami im März letzten Jahres vor einer Zuhörerschaft der Florentiner Universität, sozusagen am Tatort, vorgenommen hat. Vor diesem Auditorium stellte er unter anderem seine Gedanken zu einem »Dialog der Zivilisationen« und vor allem seine Überlegungen zur Person des Menschen vor; dies nicht, ohne dabei seine Zweifel am Umlauf des Begriffs und des Impulses von Modernität und Neuzeit in der Weltgeschichte anzumelden.

»Die Kritik der Modernität, die ich aufzeige, ergibt sich aus einem Blickwinkel und Standpunkt, der radikal verschieden ist von dem, den deren berühmteste Kritiker, besonders im Bereich der Philosophie, eingenommen haben. Wer von einem Baum einen Ast absägen will, sollte nicht den wählen, auf dem er sitzt. Auf einige zeitgenössische Philosophen, die die Modernität kritisiert haben, trifft dieses Sprichwort zu.

Indem sie der Modernität all ihre Vernünftigkeit abstreifen und ihre Entstehungsquelle versiegen lassen, verwandeln sie sie in eine Waffe, die alles zu zerstören fähig ist, sich selbst eingeschlossen, oder sie stellen sie dar als eine flaue, rostige, alte, abgetragene Waffe, die gerade noch als ein Museumsstück geschätzt werden kann. Ohne die Kraft der Vernunft und, natürlich, ohne die Kenntnis der Grenzen der Vernunft, ist der Gebrauch der Vernunft als Werkzeug der Kritik nicht möglich.

Die Kritik der reinen Vernunft - durch die in der westlichen Philosophie ein neues Kapitel aufgeschlagen wurde und die als eine Kritik von Dingen und Begriffen, eingeschlossen die reine Vernunft selbst, interpretiert werden kann, - kann nur realisiert werden, wenn der Intellekt in der Vernunft seinen Grund hat. Ohne Vernunft wäre es unmöglich, zu einem richtigen Begreifen und einer wahren Sicht einiger der lebenswichtigsten Fragen wie Menschenrechten, Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit zu gelangen und deren Einrichtung zu versuchen.

Dies sollte nicht verstanden werden als Aufruf zur Rückkehr zum europäischen Rationalismus und Logozentrismus, wie sie noch vor dem Aufkommen des Postmodernismus in Gültigkeit waren. Als Ursprung und Quelle der modernen Rationalität trägt Europa eine größere Verantwortung dafür, eine Kritik dieser Art von Rationalität aufzuweisen und einen Weg aus ihren zerstörerischen Verstrickungen aufzuzeigen. Europa, ohnehin schon das erste Opfer eines unbegrenzten sich Verlassens auf die Rationalität, befindet sich nun in einem Prozeß, in dem es sich von den Händen seiner eigenen Denker und Philosophen alle Glaubwürdigkeit und Autorität seiner eigenen Rationalität entwinden läßt.«



Orient und Okzident in Weimar

 Beginnend mit seiner ersten Reise nach Europa, die ihn nach Florenz, also an den Anfang des modernen Europa führte, hat der iranische Staatspräsident ein Unternehmen begonnen, das ihn trotz und wegen seiner Bedrängnisse und Einengungen im eigenen Land auf eine weite Reise führt, übertragen gesprochen: ins Land Nathans des Weisen. Aus europäischer Sicht kann es daher gar nicht verwundern, daß die Wanderschaft dieses Gedankens vom Jahr 2001 als das des »Dialogs der Kulturen« in Florenz seinen Anfang nimmt und vorläufig auf dem Forum der Vereinten Nationen in New York Station nehmen soll.

 Der Gedanke dieses »Utopia« ist auch nicht neu und ebendort am geistigen Ort Florenz entstanden. Lessing hat ihn von Nikolaus von Kues entlehnt. Mit den schriftstellerischen Absichten, die Nikolaus von Kues wenige Monate nach dem Fall Konstantinopels, im September 1453 in seiner Schrift über den Glaubens- bzw. Religionsfrieden De Pace Fidei, entfaltete, korrespondieren die Bemühungen Khatamis aufs Eigentümlichste. In des Cusanus Buch beginnt das Religionsgespräch, indem der älteste der versammelten Philosophen, ein Grieche, vortritt und fragt:

»Wie sollten wir denn die große Vielfalt der Religionen auf eine Einheit zurückführen? Die Völker haben bisher ihre jeweilig Religion bis aufs Blut verteidigt; sie werden schwerlich bereit sein, auf unsere Empfehlung hin eine neue Einheitsreligion anzunehmen.«

 Darauf antwortet das göttliche Verbum, das neben einigen Aposteln für die Dauer der Unterredung die Gesprächsleitung innehat:

»Ihr sollt keinen neuen Glauben einführen. Sondern Ihr sollt begreifen und dann den Völkern zeigen, daß die eine wahre Religion in allen Religionen vorausgesetzt ist.«

 Damit ist der Gang der Erörterung bei Nikolaus von Kues vorgegeben. Die Philosophen sollen keine künstliche Neukonstruktion von Religion schaffen - ein Esperanto des Glaubens sozusagen -, sondern sie sollen die einheitlichen Prämissen aller Religionen sehen und dann erzieherisch zur Geltung bringen.

 Es sieht ganz danach aus, als könnte das in De Pace Fidei dargestellte Gespräch zwischen den zahlreichen verschiedenen Kultur-, Nationen- und Religionsvertretern unter der Anleitung des göttlichen Verbums das Modell für den Dialog abgeben, den Khatami in Gang gebracht zu haben beanspruchen kann und an dem er, sein Land und seine Religion teilzuhaben wünschen.

 Die lange Reise, auf die der mit überwältigender Zustimmung der jüngeren, dem Fanatismus der islamischen Revolution abhold und überdrüßig gewordenen Generation gewählte Leiter Persiens aufgebrochen ist, hat ihn im Verlaufe der letzten eineinhalb Jahre auf den alten und neuen Pfaden der Seidenstraße entlanggeführt. Seine physischen Reisestrecken hinterlassen so deutliche Spuren, daß man bereits davon sprechen könnte, daß der neue Iran, der sich - aus wirtschaftlicher Notwendigkeit wie aus dem Willen zum Dialog auch aufgrund des eigenen, noch unüberwundenen inneren Widerstreits zwischen Volksherrschaft und religiöser Tradition - um Khatami herum und auf seiner Reiseroute herausbildet (und keineswegs alle Gefährdungen überstanden hat!) als Brücke und Drehscheibe, quasi als Achse einer neuen Koinzidenz Eurasien anbietet; und dabei dieses Unterfangen genauso prekär erscheinen läßt wie die Versöhnung der Machtansprüche und freiheitlichen Widersprüche im Iran selbst.

 Es gibt ein Land in Europa, das dem neuen Iran des Staatspräsidenten Khatami dabei mannigfache Unterstützung gewähren könnte. Nicht ohne Grund hat das Staatsoberhaupt Persiens im Sommer dieses Jahres Deutschland und Weimar besucht, nachdem er kurz davor bei einem längeren Aufenthalt die für alle Bemühungen zur Wiederherstellung der Seidenstraße wichtigen Fragen mit den Staatsführern in China besprochen hatte. Wo anders als in Weimar hat sich vor erst sechs, sieben Generationen zum Höhepunkt erneuert, was von der Renaissance nahezu vergessen wurde? Was von dort im Jahr der »Karlsbader Beschlüsse« epochemachend ausging und den Grund für den Anbeginn von »Weltliteratur« legte, beschreibt Mohammed Khatami so:

»Gestatten Sie mir, diese Stadt und diesen Kreis zum Anlaß zu nehmen, um das Thema mit einem Beispiel zu erläutern. Der Anlaß selbst ist ein Wendepunkt in der Geschichte des Gedankenaustauschs zwischen dem Orient und dem Okzident und zwischen Deutschland und Iran. Dieser Wendepunkt ist die Veröffentlichung des West-östlichen Diwans von Goethe im Jahre 1819. Goethe hat im Titel dieses Buches nicht nur das besonders bedeutsame Wort Diwan als Hinweis auf das Orientalische gebraucht, sondern auch den arabischen Titel >Östlicher Diwan des westlichen Autors< für diese Gedichtsammlung ausgewählt. Dieser Titel ist im gewissen Sinne noch ausdrucksstärker als der deutsche. Mehr als das Interesse des Verfassers an den geheimnisvollen Ländern des Orients und seiner Sprache und Kultur zeigt der Titel, daß der große deutsche Dichter Ost und West nicht nur als zwei geographische Regionen begreift, sondern als zwei philosophische und kulturelle Pole der Welt und versucht, als westlicher Dichter mit dem Orient, insbesondere mit dessen Geistes- und Kulturgrößen, in Dialog zu treten. Die iranische Kultur und einige ihrer hervorragenden Vertreter haben in dieser Vorstellung Goethes eine besondere Stellung. (. . .)

Im West-östlichen Diwan von Goethe gibt es keine Anzeichen kolonialistischer Absichten und hegemonialer Interessen, die leider die westliche Politik in den letzten Jahrhunderten des Öfteren begleitet haben. Dort geht der westliche Dichter über das Kennenlernen des >Anderen< hinaus und versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen.«

 Wenn diese Art der Annäherung und die daraus entstandenen poetischen Hervorbringungen Goethes im Zusammenwirken mit seiner späten Geliebten Marianne schon die Besonderheit eines deutschen Dichters sind, demgegenüber sich die nichtwestliche Welt darum unbefangener und besser verstanden nähern kann, so kann es dann nicht verwundern, daß der gelehrte Staatspräsident aus seiner Kenntnis Deutschlands heraus heute, zu Zeiten der Selbstverzwergung dieses Landes auf das Besitztum an einer »Leitkultur«, beinahe wie ein Schmeichler wirkt, wenn er von den Besonderheiten der geistigen Überlieferungen Deutschlands weiß und dazu folgendes den deutschen Zuhörern in Erinnerung ruft:

»Glücklicherweise belegt die deutsche Geistesgeschichte erfolgreiche Ansätze bei der Betrachtung der Tradition und der Moderne. Die deutschsprachigen Denker haben nicht nur auf dem Gebiete der Theologie, des Verständnisses der Religion und der religiösen Tradition neue Horizonte eröffnet, sondern der Entwicklungsprozeß des modernen Denkens in Deutschland war hauptsächlich mit dem Streben nach einer Erklärung seines Verhältnisses zur Tradition und dem Angebot einer umfassenden Sicht gepaart, die Tradition und Moderne in sich aufzunehmen und ihren Gegensatz aufzuheben.

Die historische Richtung des Denkens in Deutschland führte dazu, daß die deutsche Philosophie stets einen kritischen Ansatz hatte. Daß diese Kritik nicht nur die Tradition, sondern auch stets die Moderne einbezog, war die Ursache dieser großen geistigen Hinterlassenschaft. Die wichtigen Strömungen der Kritik der Moderne haben ihren Ursprung in diesem Sprachgebiet, obwohl auch sie sich der Betrachtung der objektiven Fragen und Bedürfnisse der Zeit nicht enthalten. Diese Ansätze und Erfahrungen können für die heutige Welt wegbereitend sein, denn wir können uns weder der Tradition noch der Moderne unterwerfen, aber auch nicht die eine der anderen opfern.«

  Wenn sich eine Erinnerung wie diese in dem kleinen Flecken Deutschland, in der Mitte des eurasischen Auswuchses Europa gelegen, wiederbeleben würde, hätte das Unternehmen »Dialog der Kulturen«, zu dem die Karawane des iranischen Staatslenkers nebst einigen Gefolgsleuten im Westen aufgebrochen ist, schon im nächsten Jahr, dem richtigen Anfangsjahr des neuen Jahrtausends, in dem auch die Geburt des Nikolaus von Kues sich zum sechshundertsten Male jährt, schon einen kleinen Erfolg errungen, aus dem sich weitere, weitreichendere ergeben könnten. Der andere europäische Weg zur Moderne, der noch mühsamere Landweg über die Seidenstraßen des weiten, nicht Europa allein zugehörigen Kontinents, muß erst noch eingeschlagen werden. Auf der langen Reise durch die Weite Asiens würde die westliche, die europäische Zivilisation nicht auf den Zusammenstoß der Zivilisationen treffen, sondern die Koinzidenz der Gegensätze lernen und sich anverwandeln.

Zum Thema

Präsident Khatami in einem Interview mit der New York Times am 09.11.2001