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Mit Disraeli oder mit Labor?

Aus den Studien von Zeitfragen, Sommer 1978 / Von David Hartstein

»In President Giscard d`Estaing (since he won his March elections) and Mr. Schmidt, Europe may have its two most innovative compatible politicians since Bismarck found it possible to work with Disraeli...
... vivent les Charlesmagnes.« The Economist vom 15. Juli 1978

  Für Zeitschriften wie den Economist, noch mehr aber für deren Leser, gab es in diesem Jahr gleich zwei Jahrhundertfeiern zu begehen. Gedenken durften sie mit einiger Genugtuung des Berliner Kongresses im Juli 1878; auch eines anderen hundertjährigen Jahrestages werden sie sich mit einigem Behagen recht gern erinnern - freilich leise und sophisticated, wie es sich nun einmal schickt: des >Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie<, das Disraelis auch in solchen Belangen >kongenialer< Partner Bismarck am 16. Dezember 1878 im Deutschen Reichstag einbrachte und das am 21. Oktober desselben Jahres verkündet wurde.

 Seit dem letzten Aachener Treffen der beiden >Charlesmagnes< denken in Bonn und anderswo die Beobachter der Geschichte an Bismarck. Dabei meinen sie den Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Diejenigen jedoch, die hierzulande die Belange der (Lohn-)Arbeit vertreten, werden sich an Bismarck wohl kaum mit einem erhabenen Gefühl erinnern können. Es mag stimmen, daß es seit Bismarck keinen so klugen Politiker mehr gegeben hat, dem die deutschen Verhältnisse und die Verhältnisse in Europa die Macht des deutschen Kanzleramtes anvertraut haben. - Schon dies allein wäre Anlaß zum Stirnrunzeln genug. Doch kann jemand ernsthaft an Bismarck denken, wenn er das Geschehen in Europa und der Welt verstehen will, indem er deutsche und europäische Geschichte zum Zwecke des Vergleichens deutet? Der deutsche (Bundes-)Kanzler heißt Helmut Schmidt und steht als solcher einer sozialliberalen Koalition vor. Obendrein ist er noch Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Die aber wurde 1878 vom deutschen (Reichs-)Kanzler Bismarck als >gemeingefährlich< verboten.

 Über solche Ironie der Vernunft, die ja, wenn man Hegel glauben darf, in der Geschichte waltet, müßte doch die deutsche Arbeiterbewegung herzlich und befreit (und dazu noch öffentlich) auflachen können. Oder doch nicht?

Sie sehen also, mein lieber Coningsby, daß die Welt von ganz anderen Persönlichkeiten regiert wird, als es sich jene, die nicht hinter der Bühne stehen, vorstellen. Benjamin Disraeli

 Es wäre sicherlich frevelhaft, wollte man die heiligen Stätten Aachens mit einer Bühne vergleichen. Die beiden modernen >Charlesmagnes< unterscheiden sich auch durchaus recht deutlich vom geschichtlichen Vorbild des großen Karl. Dennoch könnte Welttheater und Weltwirklichkeit gewesen sein, was sich vor, während und nach der Begegnung in Aachen abgespielt hat. So manches hat sich nun doch seit dem Berliner Kongreß verändert. Auch der Economist aus dem immer kleiner werdenden Britannien wird eines Tages seinen Irrtum bemerken. Zum einen trafen sich hundert Jahre nach Berlin nicht mehr ein Premierminister Ihrer Majestät und der Kanzler des Deutschen Reiches, sondern der Präsident der Französischen Republik und der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Zum andern bestimmt die Richtlinien der Politik im westlichen Europa heute nicht mehr ein preußischer Konservativer im Auftrage seiner Junkerkaste, seines Kaisers und aller ihrer >gesellschaftlichen Stützen< im >Reich<. Die Richtlinien der Politik im deutschen Westen kann heute ein Mann bestimmen, den der Auftrag der arbeitenden Klasse in dieses Amt gebracht hat. Dieser Mann ist außerdem noch stellvertretender Vorsitzender der >gemeingefährlichen< Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der Partei der sozialen Demokratie. Schließlich darf auch nicht vergessen werden, daß Politik im westlichen Europa nunmehr nicht von einem Briten und einem Preußen in >guter Zusammenarbeit< bestimmt wird, sondern von einem Franzosen und einem Deutschen.

 Das allerdings ist ein Bühnenbild, das uns die Weltgeschichte schon lange mißgönnt hat. Ungefähr so lange, wie das deutsche Wintermärchen währt. Wann immer Deutsche oder Deutschland aus diesem Wintermärchen erwachten und hochfuhren, wurde ein böses Erwachen daraus. Gegenwärtig besteht die Möglichkeit, die sich wohl jeder wünschen mochte, daß es für jene, die den Economist als ihr Sprachrohr betrachten und denen ein Disraeli den Titel >regierende Persönlichkeiten< verliehen hat - woraufhin er auch irgendwann ein Earl of Beaconsfield werden durfte -, in absehbarer Zeit ein böses Erwachen aus ihren imperialen Wachträumen geben wird.


Sozialistengesetz und Neue Weltwirtschaftsordnung

 Wenn also Zuschauer oder Darsteller im westdeutschen politischen Theater nach dem Abkommen mit der UdSSR, nach der Einrichtung des Europäischen Währungssystems, nach dem deutsch-französischen Treffen in Aachen an Bismarck denken, dann dürfen sie den Bismarck der Sozialistengesetze nicht vergessen. Den Bismarck, der sich nicht nur auf die >Kunst des Möglichen< verstand, sondern sich auch in der >Kunst< übte, alle nur möglichen Infamien zu begehen und damit durchzukommen. Solches >Können< ist nun einmal Konservativen an der Macht zu eigen. Dieser >innenpolitische Bismarck hat aber nicht nur die >gemeingefährlichen< Bestrebungen der Sozialdemokratie verbieten und sozialdemokratische Arbeiter einsperren lassen, er hat auch die deutsche Arbeiterbewegung >verstaatlicht<.

 Wenn heute irgendjemand urheberrechtlich für die Auswüchse eines bürokratischen Sozialstaates verantwortlich zu machen ist, dann zuallererst der >Schöpfer der Sozialgesetzgebung<. Fürsorge und Bevormundung, Sicherheit und Abhängigkeit sind Tatbestände des Verhältnisses, das mit Ausbreitung der Lohnarbeit seit Bismarcks Zeiten zwischen den Arbeitenden und ihrem Staat, nicht nur in Deutschland, besteht. Sie sind Sachverhalte und Wesensmerkmale des >feudalen Sozialismus<. Und auch hierin, im >Tory Socialism<, waren sich Bismarck und Disraeli einig. Ihre Absichten in dieser Richtung wurden (gewiß nicht zufällig) ein Jahr nach dem Tode von Karl Marx von einem kleinen Kreis Eingeweihter, die Friedrich Engels >jebildete Sozialisten< nannte, fortgesetzt. Sie selbst nannten sich: Fabian Society. Diese >Jesellschaft< gibt es noch heute - genauso wie es in Europa noch Briten und Preussen gibt.

 Was nun an der Sozialdemokratie des neunzehnten Jahrhunderts >gemeingefährlich< war, konnte nur ihre Anmassung gewesen sein, die Befreiung derer, die arbeiten, von Lohnarbeit und Obrigkeitsstaat selbständig und selbstbewußt anzustreben. >Gemeingefährlich< an den Sozialisten des vorigen Jahrhunderts war ihr Bestreben nach einem freien Gemeinwesen für alle, die geistig und körperlich schaffen und erschaffen.

 Es empfiehlt sich somit, die Albernheiten des >Denkens an Bismarck< dort in der Versenkung verschwinden zu lassen, wo sie schon lange Staub angesetzt haben, im beklagenswerten Geschichtsunterricht an deutschen Schulen. Wem zur Politik, die Helmut Schmidt beabsichtigt und wirksam anstrebt, nur >Bismarck< einfällt, der sollte sich wenigstens auch fragen, ob Schmidt wie Bismarck denkt und - ob er überhaupt so denken kann. Solche Fragen stellt sich freilich ein Sebastian Haffner zum Beispiel nicht.

 Hat etwa das >Modell Deutschland<, zu dessen Befürwortern Helmut Schmidt ja wohl gehört, irgendwelche Ähnlichkeiten mit dem >Modell Bismarck<? Da gibt es doch wohl einen entscheidenden Unterschied: nämlich den zwischen dem Reichskanzler der Sozialistengesetze und einem Bundeskanzler, der zugleich der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands angehört.

 Wenn dieser Unterschied ums Ganze zwölf Jahre lang nach dem 8. Oktober 1978 (Wahlen in Hessen) und dem 21. Oktober 1878 (hundertster Jahrestag der Verabschiedung der >Sozialistengesetze<) die Richtlinien und die Richtung der Politik im westlichen Deutschland bestimmt (>Richtpunkt< bleibt), wird es nicht nur eine Neue Weltwirtschaftsordnung geben, sondern auch eine >Neue Gesellschaft<.

 Aber nur eine Arbeiterbewegung, in Deutschland wie in Europa, die sich ihrer staatsbürgerlichen Rechte selbstbewußt bedient und ihrer wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Ziele gewiß wird, kann gewährleisten, daß dieser Unterschied bestehen und entscheidend bleibt.

 Nur dann wären die Persönlichkeiten, die die Welt regieren, ganz andere als bei dem Rothschild-Schützling Disraeli und seinen Verehrern beim Economist!