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Aus Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. Dezember 2000

 

Schöne Bescherung

Trau keinem Guru: Warum die Börsenanleger leer ausgehen

 »Ich befürchte, daß die Börsenkurse weiter sinken werden.« Der Professor lächelt. »Ein Crash sorgt immer für großes Aufsehen. Denken Sie nur an die Weltwirtschaftskrise.« Es ist Mittwoch, 20. Dezember 2000, 12.35 Uhr. Die Technologiebörse Nemax steht mit über acht Prozent im Minus. Der Sender n-tv präsentiert die Aufzeichnung eines Interviews mit dem amerikanischen Ökonomieprofessor Robert Shiller.

 Die Wirtschaftsmedien haben die Finanzwissenschaft entdeckt. Jahrelang wurde den Anlegern weisgemacht, daß es sich bei Kurseinbrüchen um ideale Kaufgelegenheiten handelt. Sogenannte »Gurus« wie Ralph Acampora und Abby Joseph Cohen avancierten durch ihien mediengerechten Daueroptimismus zu Stars der Finanzszene. Doch die alten Erklärungsmuster verfangen nicht mehr. Die Börse ist im Kamikaze-Flug, Erklärung tut not. Da kommt der amerikanische Professor gerade recht: Shiller ist ein Vertrete der sogenannten »Behavioral Finance«, einer Wissenschaftsrichtung, die sich auf die psychologische Verfassung der Börse konzentriert. ShillersThese, die er in seinem Buch »Irrational Exuberance« darlegt, überrascht uns nicht: Durch eine Konstellation bestimmter Faktoren, darunter Selbstüberschätzung der Anleger, Überspekulation und übertriebene Medienberichte, habe sich an den Finanzmärkten eine gewaltige Blase gebildet.

 Während Shiller sein Buch bereits im Frühjahr, also vor den dramatischen Kurseinbrüchen, veröffentlichte, entdecken die Medien ihn erst jetzt – nach monatelanger Börsenerosion. Kaum haben die alten Leitfiguren ihre Zugkraft verloren, wird ein neuer Kandidat zum Ober-Guru gekürt.

 Viele der Finanz-Propheten kokettieren mit ihrem Status als Superstars der Börse, sobald ihre Leitfunktion thematisiert wird. Dann ist plötzlich Tiefstapeln angesagt. »Der Markt orientiert sich Fundamentaldaten, nicht an dem, was ee einzelner Stratege sagt«, so Abby Joseph Cohen, die Chefstrategin des Investmenthauses Goldman Sachs. Doch dies stimmt nur zum Teil: Gerade in Übertreibungsphasee spielt die Psychologie an den Märkten eine große Rolle. Je gröber das Werkzeug der Tonangebenden ist, desto stärker die Resonanz. Chefbanker oder die Analysten großer Inivestmenthäuser treten als Vertreter milliardenschweren Organisationen auf. Je mehr Kapital sie hinter sich wisseri; desto.wichtiger wird jede ihrer Äußerungei. Der richtige Zeitpunkt ist selbstverständlich entscheiden. »Kurzfristig können die Gurus die Märkte beeinflussen, langfristig jedoch nicht«, sagt Gottfried Heller, ehemaliger Partner des verstorbenen André Kostolany. Selbst den größten Gurus nützt es wenig, wenn ihre Mitteilungen der Grundstimmung im Markt widersprechen. Das Kabinettstückchen des Könners ist es, den Kulminationspunkt eines Trends abzupassen. Ralph Acampora von Prudential Securities gelang dies im August 1998, als er live im Fernsehen in stark fallende Kürse hinein eine überraschend pessimistische Prognose abgab. Auch Abby Cohen, weltweit führende Kommentatorin, demonstrierte im Frühjahr, wie es geht: Sie löste mit einem unerwarteten market call einen Kursrutsch aus, der zum Ende des Booms führte.

 Anfang des Jahres war Abby Cohen noch vorsichtig optimistisch gewesen. »Die Renditen werden gut sein, doch nicht so gut wie bisher«, sagte sie im Januar vor dem World Economic Forum in Davos. Die Aktienkurse würden in den meisten Sektoren Gewinne verzeichnen. »Es scheint«, so Cohen, »der ›irrationale Überschwang‹ war gerechtfertigt.« Das war der Höhenflug. Der Knall folgte am 28. März. Da empfahl die Strategin den Kunden ihres Hauses, Aktienbestände ab- und Bargeldbestände aufzubauen. Noch vor Öffnung der Märkte wurde die Nachricht über den Finanzsender CNBC verbreitet. Ohne Vorwarnung hatte die »Bardin des Bullenmarktes«, so die New York Times, die Tonart gewechselt. Dies war das geffiürchtete Signal: Der Steuermann ging von Bord. »Wall St. Hit by Cohen«, berichtete CNN. Es schien, als habe die Seherin über die Märkte triumphiert.

 Doch es schien nur so: Nicht nur am Tag, als Abby Cohen sprach, verbuchten die Börsen heftige Verluste. Auch in den Monaten danach ging es bergab, als die »Königin der Bullen« sich wieder optimistisch gab: Mitte April wiederholte sie ihren frohen Ausblick. Doch die High-Tech-Märkte wurden mit Vehemenz verprügelt. Die Nasdaq und der Neue Markt verloren bis Jahresende weit mehr als die Hälfte ihres Wertes. Dieser quälende Abstieg ist in den Szenarien der Börsen-Seherin nicht vorgesehen. Monatelang wiederholt sie ihr Mantra vom gesunden Markt. Die Börse folgt ihr nicht.

 Damit ist Abby Cohen nicht allein. Die Leistungsbilanz der Börsen-Seher, die den Groß- und Kleinanlegern in den Ohren liegen, ist ernüchternd. Die gesamte Garde scheint ihrer Potenz beraubt: Nach monatelanger Erosion der Aktienindizes sind die Interpreten nach wie vor positiv gestimmt. Die Finanzzeitschrift »Smart Money« schrieb im November 2000: »Ganz egal, wie weit der Markt fällt, die meisten unserer Experten bestehen weiterhin darauf, daß die Dinge besser werden.« Noch im Dezember äußern sich führende amerikanische Börsenköpfe, darunter Abby Cohen, optimistisch. Und dies in einmütiger Harmonie. »Die Gurus bewegen sah nicht weit vom Konsens weg, damit sie nicht allein dumm aussehen,« so Gottfried Heller. »Sie liegen lieber mit der Herde falsch, als daß sie allein falsch liegen.« Wie dumm die Herde wirklich aussieht, beweist die Trefferquote ihrer Prognosen: Alle liegen voll daneben.

 Alles spricht dafür, daß Robert Shiller im Frühjahr bereits richtig lag. Die Märkte waren erheblich überbewertet. Anders lassen sich die dramatischen Kurseinbrüche kaum erkläen. Doch wie jede Analyse der Finanzmärkte hat auch diese nur begrenzte Gültigkeit. Die Technologibörsen sind von ihren Hochs um mehr als die Hälfte gefallen. Und sind damit zumeist weniger überteuert, als sie dies vor einiger Zeit noch waren. Shillers Meinung, die Märkte seien hoffnungslos überbewertet, klingt bei einem Nasdaq-Stand von 2300 sehr viel weniger einleuchtend als bei 5000 Punkten. Daß das deutsche Wirtschaftsfernsehen gerade jetzt auf die Meinung des Professors setzt, ist ein Hinweis darauf, daß auch er seine Sternstunde schon hinter sich hat.

 So gehen den Wirtschaftsmedien die Experten aus. Wen sie auch zitieren, praktisch alle haben an Glaubwürdigkeit verloren. Hinter der Fassade aufgesetzter Geschäftigkeit herrscht Ratlosigkeit. Die zerknirschten Gesichter der Fernsehmoderatoren zeigen, daß auch sie auf die Worte der Weisen keinen Pfennig mehr eben. Die Anlegermagazine aber haben das Börsenvolk schon wieder mit reichlich »gewinnbringenden« Tips für das kommende Jahr versorgt. Wer aber ehrlich ist, gibt zu: Momentan herrscht das Chaos, und niemand weiß, wo es langgeht. Wer jetzt Klarsicht heuchelt, beweist nur, daß er nicht lernfähig ist.

 In solch unsicheren Zeiten geben exotische Indikatoren oft die verläßlichsten Anhaltspunkte: etwa die Frisur von Maria Bartiromo, der bekanntesten Finanzjournalistin der Welt. Wie an zahllosen Abenden zuvor, verliest Bartiromo am 20. Dezember auf CNBC die Business News: Die Technologiebörse Nasdaq verliert sieben Prozent und ist auf das tiefste Niveau seit 20 Monaten gestürzt. Der Dow Jones ist angeschlagen. Die Stimmung ist mies, ein Ende der Talfahrt nicht in Sicht. Und Bartiromos Frisur? Die Frau, deren Karriere dem Boom der Börse und der Börsenmedien folgte, ist zerzaust wie nach einer langen, durchzechten Nacht. THOMAS SCHUSTER