Studienbanner_kleinStudien von Zeitfragen
35. Jahrgang InternetAusgabe 2001
Jahrbuch 2001
Zeitfragen
Global
Weltfinanz
Weltmacht
Deutschland
Mnemeion
Suche / Archiv
Impressum
Weltwirtschaft
De Pace Fidei
Protuberance
Bescherung
Staat mit 1968
Logik
Nachtrag 1967
Nachtrag 1967/II
Kriegsfragen
Gerechter Krieg
Neue NATO?
Mazedonien
Poiesis
Gettysburg

1967 - 1978

 

Die mündigen linken Staatsbürger

und die Segnungen des Russell-Tribunals - Fortsetzung

 

Bildungsbürgerliches Recht ist nicht gleich Menschenrecht
Das Unverständnis der beamteten Intelligenz

  An demagogischem Geschick läßt sich der radikale Bildungsbürger von reaktionären Bildungsbürgern wie Schelsky nur selten übertreffen. Schlichtweg demagogisch ist es aber, wenn die Russelliten behaupten, Berufsverbote und Radikalenerlaß richteten sich gegen jede Form kritischer und fortschrittlicher geistiger Arbeit. Radikale Gesinnungen oder Aussagen in Büchern lassen sich doch wohl als Ergebnis der Arbeit am Fortschritt ansehen. Diese Ergebnisse werden jedoch zwar in der BRD von vielen nicht geliebt - verhindert oder verboten hat sie bisher keiner. Mindestens manipulierend aber verfahren die Urheber des Tribunals da, wo sie die Menschenrechte ( - in Wirklichkeit Sonderrechte, die von wirklichen, in der bürgerlichen Gesellschaft lebenden Individuen beansprucht werden - ) dazu benutzen, eine Art von »Klassenverrat« am Garanten ihrer Existenz zu begehen, am Staat in der kapitalistischen Gesellschaft. Ganz im Vorbeigehen verletzen sie auch noch die akademische und die freiheitliche demokratische Standesehre des wissenden Beamten. Den »Andern« dagegen verraten sie bei allem auch noch ein Geheimnis: Viele dieser ehrbaren akademischen Berufe wären überflüssig, wenn die menschlichen Lebensverhältnisse menschlich und bewußt geregelt wären.

 Der Grund für dieses unakademische Treiben der westdeutschen linken Intelligenz ist durchaus nicht so schwer aufzufinden. Der heutige Staat ist eben nicht ein »bürgerlicher Staat«, wie ihn die amerikanische Verfassung und die Akteure der französischen Revolution ausgesonnen haben. Es ist vielmehr ein kapitalistischer geworden: das Kapital hat sich als reelles Gemeinwesen über dem eingerichtet, was der hierzulande immer noch verehrte »Erste Diener« einstmals seinen Staat nannte. Die Verwertung dessen, was Geldes-Wert hat, das all-gemeine Wesen des Kapitalverhältnisses in und über dem Gemeinwesen kann, will man der Definition von Richard Löwenthal folgen, nur insoweit »demokratisch« genannt werden, als die »Globalsteuerung« gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und staatlichen Handelns auch »demokratisch« gesteuert wird - bei Wahlen. Wer aber wollte abstreiten, daß die »Wähler« sich anders verhalten können denn als kapitalistische Personen, die mit ihrem eigenen Vermögen, ihrem (Selbst- und Eigen-)Wert wie kleine Kapitalisten verfahren. Und wenn es auch nur das Arbeitsvermögen ist! Und sei es auch nur das eigene Wissen, das Bildungsbürger vermarkten!

 Dennoch: für die Bildungsbürger ist dies nicht mehr »ihr« Staat, wie er ihnen aus Schule und Hochschule geläufig ist. Ihr geheimes Wissen über diesen Staat weiß etwas anderes als das überkommene gelehrte Wissen, das die Zunft noch hegt und pflegt. Dieser Staat ist aber auch nicht mehr der Staat der Gewerkschaftsfunktionäre, wenn sie nicht ihr Recht auf paritätische Mitverwaltung der kapitalistischen Unternehmensführung bekommen.


Der »starke« und der »arme« Staat
und das Mißverständnis der »gebildeten« Kleinbürger

 Nun widerfährt den bürgerlichen Akademikern und ihrem an der Hochschule massenhaft ausgebildeten Nachwuchs heute ein Schicksal, das als Folge »konjunktureller Verwerfungen« im Vermögen ihres Existenzgaranten eine freundliche und bedingungslose Aufnahme in den Dienst am Staat verhindert: die Wirtschaftskrise.

 Einzelne intelligente Linke begreifen Grund und Folge dieses Einstellungswandels beim obersten Brötchengeber. Die »linke Intelligenz« insgesamt ist weder willens noch fähig, diesen Vorgang zu verstehen, erst recht nicht, ihn zu verändern. Sie wollen nur ihr Recht, haben aber keine gesellschaftliche Macht. Deswegen ist eine Beschwerdestelle wie das Russell-Tribunal nichts anderes als ein Strohhalm, an den sich die Beschwerdeführenden klammern, um fiktive Menschenrechte einzuklagen. Die verweigert ihnen aber nicht nur der deutsch-preußische Staat, sondern auch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Wirklichkeit.

 So stehen sich im Dickicht des deutschen Institutionalismus zwei Fraktionen der Akademikerklasse unversöhnlich gegenüber: sozialdemokratische oder kapitalistische Etatisten und liberal-bildungsbürgerliche »Sozialisten«. Vor die Öffentlichkeit treten beide natürlich im Namen der Allgemeinheit, wie ja auch das Beamtengesetz vorschreibt, daß Beamte jederzeit Bedacht auf das Wohl der Allgemeinheit zu nehmen haben. Beide Parteien reden so, als seien sie der Staat, die Menschheit oder das Volk in Person. Sie reden, als wären sie die Verkörperung von Ideen, die immer wieder neu zu schaffen, hochzuhalten, zu beleuchten und andern zu oktroyieren ja auch der Inhalt ihrer »geistigen Arbeit« und ihr Beruf ist.

 Beide Parteien bedienen sich bei ihrer Auseinandersetzung eines ewigen Mißverständnisses. Mit diesem Mißverständnis verschleiern sie sich und anderen die unbewußten und bewußten Beweggründe hinter ihren Ansprüchen. Es ist nicht das Mißverständnis, daß auch demjenigen Verstand gegeben sein muß, der ein Amt bekommen hat. Professoren wie Schelsky erliegen einem solchen Mißverständnis freilich gern. Vielmehr ist es das Mißverständnis, daß die Intelligenz, sofern sie Verstand hat, für die Betätigung ihres Verstandes auch ein besoldetes Amt haben muß.


Die Erhaltung des Bestehenden ist unser nächstes und wichtigstes Augenmerk. Wir begreifen aber darunter nicht bloß die alte und in wenig Staaten unberührt gebliebene Ordnung im engeren Sinne des Wortes, sondern auch neu eingeführte Institutionen, sobald sie einmal verfassungsmäßige Kraft haben.

Vermächtnis des »Fürsten von Mitternacht« an die Heutigen

Was die »Andern« auch noch tun müssen

 So freischwebend die »Institution« des Russell-Tribunals nun einmal ist, so wahrscheinlich ist auch das Ergebnis ihrer Untersuchungsbemühungen, ihres »Gegenanhörungsverfahrens«: das Verfahren kehrt als Bumerang gegen die freischwebende oder beamtete Intelligenz zurück. Ihre Intelligenz, ihr geistiges Vermögen reicht offenbar nur noch hin, schlimme deutsche Zustände propagandistisch zu beklagen und zu verklagen. Deutsche Verhältnisse praktisch zu verstehen und zu kritisieren, dazu wird es wohl kaum mehr reichen. Die Aufhebung deutscher Probleme zu erdenken, deutsche Verhältnisse zu verändern - arbeitet daran noch ihr Geist?

 Die Intelligenz in Deutschland (freischwebend oder verstaatlicht) wird wie so oft in der Geschichte emigrieren, nach außen wie nach innen. Schon heute kehrt sich der Unwille über ihre Ohnmacht gegen die Hoffnung und den Verbündeten der späten Sechziger: die Sozialdemokratie. Die aber, von denen die Partei der arbeitenden Bevölkerung getragen wird, haben noch so manches zu lernen. Die Arbeiterbewegung, das heißt diejenigen, die sich zur Stätte ihrer körperlichen und produktiven Arbeit Tag für Tag bewegen (woraus bislang in Westdeutschland die Bewegung der Arbeiter im wesentlichen bestand), kann von den Auseinandersetzungen der Akademiker, der beiden Parteien der geistigen Arbeit, nur Nutzen und Gewinn haben. Wenn Akademiker sich streiten, können sich Arbeiter durchaus freuen - wenn sie bei diesem Streit genau hinhören, ihren Verstand betätigen und kapieren, was da gespielt wird.

 Für sozialistische Intelligenz werden die Arbeitsbedingungen weder besser noch schlechter. Im Grunde handelt es sich beim sozialen Existenzkampf des neulinken Bildungsbürgertums um einen Kampf, der sie nur am Rande angeht. Die Betätigung sozialistischer Intelligenz, des geistigen Arbeitsvermögens von Sozialisten, ist nicht gebunden an Lehrstühle und Planstellen. Sie ist vielmehr Betätigung aller intelligenten Arbeitenden zur Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft. Arbeit gibt es für sie genug! Nicht Arbeit ist heute weniger geworden, sondern Arbeitsplätze. Gerade deswegen steht sozialistische Intelligenz auch vor viel mehr Arbeit. Für den geschichtlichen Fortschritt gibt es noch eine Menge zu tun - fast alles!


(...) die Veränderung oder gar Abschaffung dieser Klassenverhältnisse kann natürlich nur aus einer Veränderung dieser Klasse und ihrer wechselseitigen Beziehungen hervorgehen, und die Veränderung in der Beziehung von Klassen ist - eine geschichtliche Veränderung, ein Produkt der gesamten gesellschaftlichen Tätigkeit, mit einem Wort, das Produkt einer bestimmten »geschichtlichen Bewegung«. Einer geschichtlichen Bewegung kann der Schriftsteller wohl als Organ dienen, er kann sie natürlich nicht machen.

Der stellungslose Karl Marx zur moralisierenden Kritik und zur kritisierenden Moral



Die Hochschule und das Elend der Geistesarbeiter
Untergang des bildungsbürgerlichen »Abendlandes«

 Seit Beginn des kapitalistischen Zeitalters war das Bildungsbürgertum verbündet mit der sogenannten Bourgeoisie. Dennoch war dies Bündnis nie frei von Argwohn und Befürchtungen. Das gilt insbesondere seit dem Aufkommen des industriellen Kapitalismus und jener Klasse gegenüber, deren Handlungsträger die Logik und Dynamik des Kapitals unternehmerisch verwirklichen. Diese Logik des christlich-kapitalistischen Paradigmas in Physik und Metaphysik (die faustische Kultur Oswald Spenglers) haben Bildungsbürger wie Calvin und Luther ausgedrückt. Bildungsbürger wie Max Weber haben dies dann später erklärt und, natürlich, »rationalisiert«.

 Die Produzenten von Ideologie und Erbauung waren in der Geschichte die einzige »bürgerliche Klasse«, die einen echten sozialkulturellen Zusammenhang ausgebildet hatten und noch haben. Die abendländische Kirche hat ihnen das vorgemacht. Bis auf einige Anfangsschwierigkeiten war ihre Zusammenarbeit mit der »Bourgeoisie« nie in Frage gestellt. Nachdem die endgültige Einrichtung der Logik und Dynamik des Kapitals durch die Unternehmertätigkeit im Industriekapitalismus verwirklicht worden war, begann sehr bald die Phase des »organisierten Kapitalismus«. Das heißt nichts anderes als daß die Logik des Kapitals, die kapitalistische Verwertung von Menschen und Gütern so schlecht funktionierte, daß die unsichtbare Hand etwas härter zupacken mußte. Für diesen Vorgang und für sein Ergebnis hat die unermüdlich Worte statt Werte schaffende Theorie zahllose Namen erfunden.
Das Kreditwesen - Motor des Kapitals und seiner vertrackten Logik - wurde in Gestalt des Finanzkapitals die dominierende Abteilung der »Bourgeoisie« und über die »Bourgeoisie«. Carter, Brzezinski und alle anderen sichtbaren Hände folgen heute, gute Christen und Bourgeois, die sie nun einmal sind, dieser unwiderstehlichen »Logik«. Sie tun dies, wenn`s sein muß, bis in den Untergang nicht nur des Abendlandes, sondern der ganzen Menschheit.



Der Bildungsbürger und die Macht

 Einer der vielen Namen, die dem staatlichen Unwesen der Epoche des Finanzkapitals gegeben wurde, stammt von der Frankfurter Schule: der autoritäre Staat. Die allgemeine Übereinstimmung aller Klassen mit dem Kapital und seiner Logik vollzog sich endgültig in jenem geschichtlichen Augenblick, da die Sozialdemokratie, was sie bis heute tut, sich in dieses »Gebilde« eingliederte und sich entschloß, dieses verstaatlichte Gesellschaftsgebilde zu tragen, zu stützen und zu erhalten. Ein Unterfangen, das selten ohne Ächzen und Stöhnen gelang und die Sozialdemokratie zu einem Atlas machte, der heute den globalen Unsinn trägt.

 Seit der Zustimmung der Sozialdemokratie zum »Imperialismus und seiner Methode, dem Weltkrieg« (Luxemburg) gibt es die Arbeiterklasse als mögliche revolutionäre Klasse, als mittlerweile klassisch gewordene Möglichkeit der sozialen Revolution, nur mehr als Mythos. Diesen Mythos hat uns kein geringerer als Georg Lukacs scharfsichtig ausgemalt. Zwar hat es seit Beginn des Ersten Weltkrieges zahllose »objektive Möglichkeiten«, objektive Gelegenheiten für eine soziale Revolution der Arbeiterklasse gegeben, doch gerieten die arbeitenden Klassen zahlloser Länder in solchen Augenblicken bisher immer nur in Verlegenheit! Ihr Bewußtsein war eben nicht zurechnungsfähig. Sie zogen es, weil bequemer, vor, sich am allgemeinen Verteilungskampf ums kapitalistische Mehrprodukt, als besonders benachteiligte Klasse »partnerschaftlich« am allgemeinen Konkurrenzkampf zu beteiligen.

 Für die Ordnung dieses Konkurrenzkampfes im organisierten Kapitalismus, für das Erhalten und Funktionieren seiner Gesellschaftsstruktur bedurfte der Welt-Ungeist Techniken und Technologien entsprechend der Logik des Kapitals und der für die Fortdauer des Kapitalverhältnisses unerläßlichen physischen und psychischen Ausbeutung der Ware Mensch. Die Ware Mensch aber wurde dadurch dem Ideal des wahren, guten und schönen Menschen, wie es dem Bildungsbürger in seiner Klassizität vorschwebte, immer unähnlicher. Da die Verhältnisse immer weniger erbaulich wurden, bedurfte der Welt-Ungeist des Bildungsbürgers bald nicht mehr. Die Rolle des erbaulichen Erbauers von Kultur für sich und andere brauchte er nicht mehr zu spielen. Geschichtlich war er überflüssig geworden und taugte nur noch für die Hervorbringung von unterhaltsamen Scharlatanerien.

 Die intelligentesten Bildungsbürger in Deutschland (die Tuis der Frankfurter Schule) hatten dies zuerst begriffen, trauten jedoch ihrem Verstand noch nicht so recht und sahen ihre Felle im Kapitalismus noch nicht vollends wegschwimmen. Den wesentlichen Teil ihrer Kritik am Bildungs-Spätbürgertum veröffentlichten sie ab 1933 im Ausland. Da gab es freilich ohnehin für Bildungsbürger, auch die der Weltbühne, nichts mehr zu bestellen. Das Deutschland, das sie verließen, taumelte hinein in eine »permanente« kriegerische Revolte gegen seinen eigenen revolutionären Zustand - mit den barbarischen Folgen, die noch heute deutsche Wirklichkeit sind.


Der autoritäre Staat und die große Verdrängung

  Der Faschismus als primitive Form der Durchsetzung der Kapitalslogik durch den Staat als alle gesellschaftlichen Verhältnisse total bestimmende Logik verlangte die Gleichschaltung auch von den Wissenschaften, erst recht von den Geisteswissenschaften. Sogar die Psychoanalyse bot ihre Dienste an, um Lücken »sozialer Tüchtigkeit« zu schließen im Dienste der faschistischen Vernichtungsökonomie. Intellektuelle, die von ihren bildungsbürgerlichen Tagträumereien noch nicht erwacht waren, konnten den fehlenden Teil ihrer »Sozialisation« (Verstaatlichung) im Arbeitslager oder KZ nachholen.

 Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte auch der letzte Dummkopf begriffen, daß Kapitalismus zum Faschismus führen muß. Das kommt zum Beispiel auch im Ahlener Programm der damaligen Union christlicher Demokraten zum Ausdruck. Nun gelang es den westlichen Alliierten, unseren heutigen »Verbündeten«, mit den verfeinertsten Methoden sozialpsychologischer »Umerziehung« (Resozialisation), aber auch, wo das nicht half, mit der Gewalt des Militärs ( - die der terroristischen Gewalt der vorausgeschickten Bomben folgte - ) und schließlich mit der Gewalt des Hungers diesem westlichen Teil des fürs atlantische Finanzkapital erbeuteten Deutschland das Konzept der »(nach-)faschistischen Demokratie« (Helms) zu oktroyieren; das neue Grundgesetz des geschlagenen Deutschland.

  Derlei gab dem Bildungsbürger, der nichts gelernt und nichts begriffen hatte, neuen Auftrieb. Die einen betätigten sich als Ideologen des »human capital«, die anderen betätigten sich als Mahner und Warner. Zur Abteilung der Warner und Kritiker gehörte als weitestblickende Interessengemeinschaft der Bildungsbürger auch die Frankfurter Schule. Kritische Kritik an Bildungsbürgern und anderen Bürgern für Bildungsbürger wurde auf dem Buchmarkt, in den Hochschulen und dem so viel geschmähten Kulturbetrieb getauscht gegen die Würden des »heimgekehrten« Instituts und seine praktische gesellschaftliche Unwirksamkeit. Die Tuis, Bildungsbürger, die sie waren, wußten bei all ihren Kenntnissen und Einsichten in den gesellschaftlichen und kulturellen Betrieb mit der elften Feuerbach-These nichts anzufangen. Denn: »Da der Augenblick der Verwirklichung der Philosophie versäumt ward, erhält sie, die einmal überholt schien, sich am Leben, weil die Veränderung der Welt mißlang.« (Adorno)

 Für den Bildungsbürger hörte der Nachkriegsboom ungefähr zur gleichen Zeit auf, wie der Mythos vom Wirtschaftswunder seine Wirkkraft auf die Nachkriegsdeutschen eingebüßt hatte. Von nun an wurde auch gesprochen von einer »Proletarisierung« der Intelligenz: Akademiker hatten nurmehr Verwaltungsaufgaben für Bestand und Funktionieren des logischen Systems des Kapitals zu erfüllen. Ihre Arbeit wurde Arbeit fürs Kapital, wenn auch in peinlichem Sinne abstrakte Arbeit. Für bildungsbürgerliche Selbstverwirklichung - objektiv oder subjektiv - gibt es erst recht seit Mitte der sechziger Jahre keinen Freiraum mehr. Keinen Raum in der Gesellschaft gibt es mehr für den »freien Geist« - wenn es diesen überhaupt, trotz Nietzsche und dem spätbildungsbürgerlichen Dr. Faustus - je gegeben haben sollte, seit Goethe seinen Faust beendet und bald danach von der alten Welt des Abendlandes auch physisch Abschied genommen hatte. In Deutschland hat der bildungsbürgerliche »freie Geist« spätestens 1848 seinen Doktorhut mit der Schlafmütze vertauscht.

 Es ging noch lange Zeit dahin, bis das Schicksal des »Fachidiotentums«, über das der Bildungsbürger bislang beim Naturwissenschaftler und Techniker die Nase gerümpft hatte, auch die lebensgeschichtliche Perspektive des Geistes- und Gesellschaftswissenschaftlers wurde: Arbeiter-Dasein - vor allem Arbeitsteilung - Leben gegen Geld. Lohnarbeit und Kapital sind nur zu verstehen als immer wiederkehrender Verkauf von Leben gegen Geld. Das ist die »ewige Wiederkehr des Immergleichen«! Darin besteht die Herrschaft des Kapitals über alle und alles. Der Arbeiter wird nicht allein um einen Geldanteil betrogen, wie so manche »Marxisten« glauben machen wollen, sondern um das Leben. Arbeiter - das ist die Ware Mensch, die, so lange Menschen leben wollen, sich als Ware ver-tauschen und sich über das, was Menschenleben sein kann, täuschen müssen, um zu überleben.

 Leben gegen Kapital, das ist der Grundwiderspruch unserer Zeit. Da bleiben weder Residuen noch Freiräume; für nichts und niemanden. Darin besteht auch die »Weltproblematik«, von der die Herrschaften des Club of Rome (die Herrschaften der Kapitalsherrschaft) ihre Computer sprechen lassen.

Was einmal gedacht ward, kann unterdrückt, vergessen werden, verwehen. Aber es läßt sich nicht ausreden, daß etwas davon überlebt. Denn Denken hat das Moment des Allgemeinen. Was triftig gedacht wurde, muß woanders, von andern gedacht werden: dies Vertrauen begleitet noch den einsamsten und ohnmächtigsten Gedanken. Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend: Denken hat die Wut sublimiert. Weil der Denkende es sich nicht antun muß, will er es auch den andern nicht antun. Das Glück, das im Auge des Denkenden aufgeht, ist das Glück der Menschheit. Die universale Unterdrückungstendenz geht gegen den Gedanken als solchen. Glück ist er, noch wo er das Unglück bestimmt: indem er es ausspricht. Damit allein reicht Glück ins universale Unglück hinein. Wer sich das Denken nicht verkümmern läßt, der hat nicht resigniert.

Adorno über die revoltierende Resignation



Vom Institutssturm zum Institutsturm

  Die Hochschule ist ein Kauderwelsch der verschiedenartigsten gesellschaftlichen Tendenzen als vielerlei Ausdrucksformen der unvernünftigen Rationalisierung des »Systems«. Dort wird der Wahnsinn mit Methode entweder angerichtet oder den staunenden Kindern notdürftig eingetrichtert. Hat ein NC-Geschädigter sich erfolgreich zum jahrelangen Vereinnahmen von formelhaftem Fachwissen gezwungen, beginnt für ihn, besonders bei geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächern das Desaster der »Berufsperspektive«. In solches Chaos läßt sich keine vernünftige Struktur bringen. Deswegen gibt es auch so viele »Chaoten«. Die »politischen« Gruppen mit ihren verschiedenen Heilslehren und Parteiaufbauten sind Potemkinsche Studentendörfer, hinter denen sich das Hochschulelend verbirgt. Wie einst im alten Rußland gedeiht auch hier allerlei Mystisches. Die Spinnereien der »spontanen Gegenkultur« legen hiervon nicht erst seit dem Aufkommen ihrer romantischen Verehrung für die »unterdrückte« Natur beredtes Zeugnis ab.

 »Wissenschaft«, zumal die Ausbildung, die zu ihrer »Beherrschung« führen soll, ist fast überall zu bloßer »Theorie« degeneriert, der heute auch das Beiwort kritisch kein Leben mehr einhauchen kann, solange sie wie formelhaftes Wissen und wie eine ehrwürdige Überlieferung der Weisen aus den Sechzigern eingenommen wird. Dieses Wissen, das in einem abstrakten und damit in keinem unverstellten Verhältnis zu alltäglichen gesellschaftlichen (im Unterschied zu Milieu-) Erfahrungen im Denken, Fühlen, Handeln von in der westdeutschen Gesellschaft lebenden Menschen mehr steht, ist ein Wissen, mit dem auch nichts mehr gedacht und begriffen werden kann. Von bewußter Veränderung der Menschen in Gesellschaft und der Gesellschaft ganz zu schweigen.

 Das heute an der Hochschule zirkulierende Wissen ist Geld - Spielgeld zum Scheinerwerb und zum Erhalt des (gesellschaftlichen) Scheins. Nur wenn begriffen wird, daß es ums eigene Leben und das Leben aller geht und diese Fragen nicht sozialarbeiterisch verdrängt werden - wie es den Opfern des langen Marsches durch die Institutionen aufgenötigt wird - , kann es gelingen, den gesellschaftlichen Gebrauchswert von Wissenschaft als Werkzeug zur Veränderung der Welt ( - einer Welt, in der wir alle leben müssen und nicht können - ) herauszuarbeiten. Als Wissenswertes und Verwertbares im kapitalistischen Wissenschaftsbetrieb hat »Wissenschaft« alleine Tauschwert und Prestigewert. Sie ist Schund!


Berufsverbot und der Beruf von Sozialisten

Die mehr oder minder geheimen Führer der deutschen Kommunisten sind große Logiker, von denen die stärksten Köpfe aus der Hegelschen Schule hervorgegangen sind, und sie sind ohne Zweifel die fähigsten Köpfe und die tatkräftigsten Charaktere Deutschlands. Diese Doktoren der Revolution sind die einzigen Männer in Deutschland, denen Leben innewohnt und ihnen gehört, ich fürchte, die Zukunft.

Heinrich Heine in einem Gutachten für den preußischen Verfassungsschutz 1844

Das System des Erwerbs und des Handels, des Besitzes und der Ausbeutung der Menschen führt aber noch viel schneller als die Vermehrung der Bevölkerung zu einem Bruch innerhalb der jetzigen Gesellschaft, den das System nicht zu heilen vermag, weil es überhaupt nicht heilt und schafft, sondern nur existiert und genießt. Die Existenz der leidenden Menschheit, die denkt, und der denkenden Menschheit, die unterdrückt wird, muß aber notwendig für die passive und gedankenlos genießende Tierwelt der Philisterei ungenießbar und unverdaulich werden.

Von unserer Seite muß die alte Welt vollkommen ans Tageslicht gezogen werden und die neue positiv ausgebildet werden. Je länger die Ereignisse der denkenden Menschheit Zeit lassen, sich zu besinnen, und der leidenden, sich zu sammeln, umso vollendeter wird das Produkt in die Welt treten, welche die Gegenwart in ihrem Schoße trägt.

Karl Marx in einem Gutachten für die Zuhörer beim Russell-Tribunal


Politik und Beruf und der Primat der Wirtschaft

  Der Begriff »Berufsverbot« ist höchst fragwürdig. Werden hierzulande Berufe verboten? Oder wird die Ausübung bestimmter Berufe verboten? Oder wird nur bestimmten Personen die Ausübung eines Berufes verwehrt oder verboten wie weiland dem stellungslosen (Chefredakteur) Dr. phil. Karl Marx? Wird in diesem Land bestimmten Kritikern der herrschenden Zustände die Ausübung ihres kritischen Amtes verboten?

 Was ist denn ein Beruf, der einem verboten werden kann, obwohl man sich zu ihm berufen fühlt? Sollte nicht unterschieden werden zwischen Tätigkeit und (An-)Stellung? - Beamter zu werden und zu sein ist wahrhaftig nicht der Beruf. Allenfalls ist es eine Berufung, zu der ein Bewerber laut Beamtengesetz nur folgerichtig auch berufen wird. Als vorläufige Bestimmung dessen, was in diesem Land unter Berufsverbot verstanden wird, sollte besser davon gesprochen werden, daß bestimmten Absolventen von Hoch- und Fachschule die Ausübung einer »professionellen Erwerbstätigkeit« im Öffentlichen Dienst verwehrt wird.

 Nun setzt aber jede solche Erwerbstätigkeit ein gesellschaftliches Bedürfnis (»Nachfrage am Arbeitsmarkt«) voraus, zudem noch, was nicht vergessen werden darf, eine persönliche Befähigung. Eine bestimmte Tätigkeit wird in der Regel dadurch unmöglich, daß kein »Arbeitsplatz« vorhanden ist oder sich ein Bewerber als nicht ausreichend befähigt erweist. In bestimmten Bereichen staatlicher »Berufstätigkeit« werden besondere Qualitätsnormen aufgestellt, nämlich für Beamte. Deutlichstes Beispiel hierfür ist der Polizist im Unterschied zum Privatdetektiv. Schließlich müssen Schweregrade einer Tätigkeitseinschränkung oder eines Tätigkeitsverbotes unbedingt in Rechnung gestellt werden. Eine Beschneidung oder Verweigerung des Vorrechtes, Beamter zu werden, ist immer noch etwas anderes als die unmittelbare Existenzgefährdung durch ein totales Tätigkeitsverbot. In solchen Fällen wird die oder der Betroffene der Sozialhilfe überantwortet, während sie andernfalls, was ja häufig vorkommen kann, selber besoldeter Sozialarbeiter geworden wären.

 Solche Vorbemerkungen müssen vorausgeschickt werden, damit sich der Charakter der »Berufsverbote« genauer darstellen läßt. Unter Berufsverbot werden hauptsächlich Fälle verstanden, in denen akademisch ausgebildeten Bewerbern für den Staatsdienst entweder trotz des Erwerbs akademischer Würden die höheren Weihen der Beamtenschaft verweigert werden oder den bereits im Dienst des Staates befindlichen Beamten ihre Weihen wieder aberkannt werden. So geschehen bei dem Sohn des einstmals hohen Bundesbeamten Güde.

 Die siebziger Jahre zeigen auf der einen Seite eine strukturelle Akademikerarbeitslosigkeit, auf der anderen Seite eine dem »Establishment« nicht genehme Einstellung oder Aktivität von insbesondere Studenten und Akademikern bei Angelegenheiten, die sie, wenn es nach dem besagten »Establishment« ginge, gar nichts angehen sollten.

 Hier wird trotz dieser Feststellung aber die unangenehme These aufgestellt, daß viele der »politischen« Berufsverbote nur verhüllte ökonomische Steuerungsvorgänge darstellen. Ein »Arbeitsplatzmangel« war, verglichen mit der Zahl der Ausgebildeten, bereits vorhanden; allein die »Verteilung« der vorhandenen Stellen konnte erfolgen und erfolgte nach gewissen oder besser ungewissen politischen Maßstäben. Freilich muß in diesem Zusammenhang die Frage nach dem Effekt »politischer Disziplinierung« gestellt werden. Denn dieser Effekt scheint sich nach Auffassung des Gutachters Peter Schneider bruchlos mit den bekannten psychischen und sozialen Vorgängen einzustellen bei einem jungen Menschen, der sich nach absolviertem Hoch- oder Fachschulstudium auf die zu erwartenden Verfahren vorbereitet und einzustellen versucht. Er scheint sich schon vor der Anhörung darauf vorzubereiten, was von ihm als künftigem Staatsdiener erwartet wird; wobei ihm sein »eigenständiges politisches Denken und Handeln« unversehens abhanden kommt. Unschwer ist zu sehen, daß dieser Ablauf verblüffende Ähnlichkeit mit dem Überprüfungsverfahren für Wehrdienstverweigerer aufweist! Bei diesen geht es auch um den »Dienst am Staate« - und letztlich auch um die dem zu Prüfenden frühzeitig aufgenötigte Heuchelei!

 Nur nebenbei bemerkt wäre auch noch eine andere Frage von Belang: Wie früh stellt sich in einem so gearteten »Sozialisationsvorgang« eine bestimmte Disziplinierung bei anderen Auszubildenden ein? Zum Beispiel bei Lehrlingen, die keine Lehrstelle finden oder nach abgeschlossener Lehre keinen Arbeitsplatz? Die aber haben noch weit früher und unter härteren Bedingungen »gelernt«, nicht nur politisch brav zu sein. So stellt sich dann die Frage allgemeiner und gesellschaftlicher: klassenlos. Darüber, nämlich über Notwendigkeit und Legitimität der altbekannten Verfahrensweisen zur Disziplinierung und Sozialisation, ließ sich beim Russell-Tribunal nichts vernehmen.


Die Krise und die »Grundordnung«

 Zu dieser nur bruchstückhaft erweiterten »Menschenrechtsfrage« sollen folgende Thesen aufgestellt werden:
 

 1.Es gibt eine strukturelle Akademikerarbeitslosigkeit, die sich in wichtigen Merkmalen von der »Jugendarbeitslosigkeit« unterscheidet. Aus ihr folgt das sich stetig verschärfende Problem der »gerechten« Arbeitsplatzverteilung.

 2.Die Frage der »sachlichen und fachlichen« Qualifikationsnormen ist außerordentlich schwierig. es ist zugleich die Frage nach der Qualifikation von »höherer wissenschaftlicher Ausbildung« überhaupt. Die Antwort auf diese Frage geht einher mit den Folgen der gescheiterten Bildungsreform.

 3.Es gibt ein Grundrecht - man mag es Menschenrecht nennen - auf freie Meinungsäußerung in den Grenzen der westdeutschen Legalität. In eben solchen Grenzen gibt es auch das Grundrecht der Organisationsfreiheit. Ein Grundrecht auf die Freiheit, Menschen zu erziehen, gibt es dagegen in unserm Grundgesetz nicht. Zudem muß, wenn man vom Grund- und Vorrecht des sogenannten Elternrechts absieht, das freilich noch lange keine pädagogische Befähigung gewährleistet, die den Lehrern anvertraute Erziehung wissenschaftlichen Erkenntnissen und den Grundrechten des Kindes entsprechen! Der zu erziehende Mensch bedarf des Schutzes der Gesellschaft, damit er nicht privater Willkür eines Lehrers oder der Eltern anheimfällt. Dies gilt für die meisten beamtlichen Funktionen im Öffentlichen Dienst: Polizei, Gesundheitswesen usw. An dieser Stelle ist aber ernsthaft zu fragen, ob jemand, der sich z. B. in der DKP oder dem KBW ( - deren programmatisches Verhältnis zu den Grundwerten einer demokratischen und rechtsstaatlichen Verfassung mindestens gestört ist - ) organisieren läßt, ein ausreichendes Vermögen zur Realitätsprüfung besitzt, um erzieherische Aufgaben wahrzunehmen.

 4.Es kann also kaum die Forderung nach Abschaffung des Prüfungsverfahrens gestellt werden. Vielmehr müßte gelten, dieses Verfahren durchschaubar und wissenschaftlich zu gestalten. Was schließlich das »aktive Eintreten für die freiheitliche demokratische Grundordnung« betrifft, so läßt sich dieses »aktive Eintreten« ohne Schwierigkeiten konkretisieren.

 Der im Grundgesetz niedergelegte Katalog von Grund- und Menschenrechten ist diese Grundordnung. Für ihre Einhaltung und aktive Verteidigung eintreten, für ihre ständige Verwirklichung eintreten hieße also für einen Beamten, und nicht zuletzt für jeden anderen Staatsbürger auch, bei all seinen Tätigkeiten auf diese Grund-Rechtsordnung stets »Bedacht zu nehmen« zum Wohle der Allgemeinheit.


Demokratie im westdeutschen Staat

 5.Die Frage der politischen Disziplinierung ist eine andere. Hier soll durch die vorweggenommene oder später erfolgende Wirksamkeit von Einkommen und Status ein bestimmtes politisches Verhalten praktisch erreicht werden. Es handelt sich hier um einen tätigkeitsbezogenen Steuerungsvorgang, der nicht durch den »freien« Markt und nicht von den Kriterien der Legalität bestimmt wird. Dennoch geht es um Steuerung von legalem (dem Beamtengesetz konformen) und marktgerechtem Verhalten. Da diese Steuerung in einem rechtsfreien Raum ( - dem von der Einstellungsbehörde gestalteten Prüfungsverfahren - ) vorgenommen wird und letzlich von der Autorität der Einstellungsbeamten ausgeht, muß sie als völlig illegal gelten. Sie ist grundgesetzwidrig und stellt einen Mißbrauch von sozialer und »staatlicher« (im Beamtenkörper verdichteter) Machtinhaberschaft dar!

 6.Wird massenhafte politische Disziplinierung zur Erhaltung und zum Bestand eines Systems notwendig, so handelt es sich, unabhängig von einer historisch-politischen Begründung, um eine Diktatur oder eine wie auch immer zu benennende nichtdemokratische Machtausübung; und sei es auch nur die von Teilen einer Bürokratie. Wie wir wissen, ist eine solche Diktatur mit formal durchaus demokratischen oder rechtsstaatlichen Mitteln durchführbar.

  7.Es gibt eine Dialektik zwischen Demokratie und Diktatur. Jede Demokratie bedarf diktatorischer (»autoritärer«) Maßnahmen zu ihrer Erhaltung. Hierzulande wird das »Wehrhaftigkeit« genannt. Die kapitalistische Demokratie ist eine unter der Diktatur, den diktierenden gesellschaftlichen Bedingungen, des Kapitalismus - wie eine sozialistische Demokratie eine unter der Diktatur des Sozialismus wäre: eine geplante Weltwirtschaft für die Bedürfnisse der Weltbevölkerung!

  Mit anderen Worten: die Grenzen einer Demokratie werden durch die gesellschaftlichen »Rahmenbedingungen« diktiert. (Über diese Zusammenhänge kann, wer will, sich durch die Lektüre von Richard Löwenthals, d. i. Paul Serings »Jenseits des Kapitalismus« ausführlich und genau ins Bild setzen; er sollte sich dabei von dessen »Vorwort nach dreißig Jahren« nicht kopfscheu machen lassen!) Entscheidend ist der Charakter der (in der ganzen Welt) geltenden Bedingungen, ihrer Genese und Bestandserhaltung. Dann bleibt schließlich nur noch die Frage nach der Legitimität, nach dem begründeten und vernünftigen Wozu: die Kernfrage nach dem gesellschaftlichen Inhalt und Zweck einer wirklichen Demokratie.

 Werden die Rahmenbedingungen eines Gesellschaftssystems, beispielsweise die »Wirtschaftsverfassung« und ihre Wirklichkeit vom Volke, von einer Klasse oder einer Schicht, einer Militärjunta oder einer Besatzungsmacht bestimmt, diktiert? Gibt es über diese Bedingungen eine Diskussion mit der Möglichkeit, gemäß dem Ergebnis dieser Diskussion auch zu handeln? Gibt es einen »herrschaftsfreien Dialog« von Einzelnen oder Gruppen über diese Bedingungen? Schließlich: Stehen sie zur Wahl oder gar zur Disposition?


Das unterworfene Land und die bedingte Demokratie

 8.Als Demokrat muß man sich mit dem Gedanken und der Wirklichkeit vertraut machen, daß es »auf deutschem Boden« einen legitimen Kapitalismus und einen illegitimen »Sozialismus« gibt. Oder umgekehrt? Genauer gefragt: Wie schaffen wir den umgekehrten Fall?

 9.Die Bundesrepublik Deutschland ist ein vom Imperialismus (einem die ganze westliche Gesellschaft beherrschenden wirtschaftlichen, politischen und militärischen System) besetztes Teil-Land. (-Unerheblich ist in diesem Zusammenhang die Detektivfrage, ob die verantwortlichen »Steuermänner« nun in London oder in Washington residieren. Entscheidend ist das Steuerruder, das internationale Finanz- bzw. Geldkapital.-)

 Der Imperialismus im westlichen Teil Deutschlands ist die Bundesrepublik Deutschland. Wir leben in Yankee-Deutschland, so wie unsere »Schwestern und Brüder« im anderen Teil-Land in einem Staat leben müssen, den sie wohl am liebsten - mangels einer geschichtlichen Physiognomie des »Sowjetmenschen« Iwan-Deutschland nennen würden. Als besetzte Teil-Länder können weder die BRD noch die DDR eine Verfassung auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der »Sprach«-Völker haben. Wie verdeckt auch immer: Im westlichen Teil Deutschlands herrscht die Diktatur des atlantischen Imperialismus. Das ist ein logisch-historische Aussage. Obendrein noch eine höchst aktuelle.

 In den so gesetzten Rahmenbedingungen bestehen für die Yankee-Deutschen Wahlmöglichkeiten zwischen zwei bis drei diesem System gegenüber konformen Parteien. Oder auch nicht; wenn der Außenminister Genscher als Machtmacher die Wahlmöglichkeiten in seiner Person massig verkörpert und jeden Morgen neu auf seinem Taschenrechner ausrechnet. Es ist allein der gesellschaftliche und der halbwegs demokratische Charakter der Massenpartei SPD mit ihrem halbwegs demokratischen Funktionieren, dem die politischen Prozesse in der BRD ihren halbwegs »demokratischen« Verlauf verdanken. Dies gilt von der Neutronenbombe über die Rentenfrage bis hin zum Stammheimer Verfahren. Dieser Tatbestand ist es dann auch, der die Sozialdemokratie wie schon zweimal in ihrer Geschichte auseinanderzureißen droht und dessen sich die verantwortlichen Führer der SPD Wehner, Brandt und Schmidt nach Kräften zu erwehren versuchen.

 Trotz alledem: die Verfassung beider deutscher Staaten entstand nicht durch das Selbstbestimmungsrecht des Volkes deutscher Nation und gründet sich nach wie vor nicht darauf - entgegen allen anno 1916 vom Präsidenten Wilson feierlich erklärten 14 Punkten. Die freiheitliche demokratische Grundordnung hat das westliche Teilvolk nicht begründet; es hat sich nur hineingelebt und damit abgefunden. Eine solche Feststellung ist durchaus nicht so formal, wie sie sich beim ersten Augenschein ausnimmt. In der CSSR wurde 1968, in Chile 1973 gezeigt, was es bedeutet, den Rahmen zu verlassen, den die beiden imperialen Mächte den von ihnen beherrschten Völkern gelassen haben. Von einem solchen Vorgehen ist jedes europäische Land genauso bedroht wie die immer wieder aufs Neue niedergeworfenen Länder Lateinamerikas.

 Seit 1969, als sich im Westen Deutschlands auch die »arbeitenden Massen« zu regen begannen, waren sich Wehner, Brandt und Schmidt dieser Bedingungen sehr wohl bewußt. Wie nicht zuletzt das Spektakel um die Neutronenbombe neuerdings erweist, gibt es auch hierzulande ( - nicht nur wie 1953 in der DDR oder 1968 in der CSSR - ) interessierte und mächtige Gruppen, die mit den Vormächten »verbündet« sind. Sie und die Kreise, in denen sie sich alljährlich versammeln, sind die »Verbündeten«, von denen auch die Sozialdemokraten mit Pathos reden müssen, die sich über diese Kreise im klaren sind. Mit diesem Bündnis aber hat wohl letzten Endes kein vernünftiger Deutscher und kein vernünftiger Europäer etwas Vernünftiges im Sinn.


Gefahr für Deutschland

 In den Jahren 1970/73 hat sich in Deutschland anti-imperialistischer Volks- und Bürgerkrieg abgespielt - im Geiste. Insofern ein echt deutscher Befreiungskrieg! Er dauerte bis zum Atomalarm des Dr. (Strangelove) Kissinger im Anschluß an den Yom-Kippur-Krieg und dem von der Regierung verfügten Fahrverbot Ende 1973. Damit sich aus dieser Lage und aus den Stimmungen der Deutschen hüben und drüben nicht ein wirklicher Krieg entspinnt ( - zu dem Deutsche, wann immer sie mit sich und der Welt nicht weiter wissen, stets einen wuchtigen und für sie selbst fast immer katastrophalen Beitrag leisten - ), taten Wehner und Schmidt alles nur Erdenkliche, um den Frieden zu erhalten. Sie tun es auch heute noch. Doch gerade dies bedeutet auch, daß die militante und gewalttätige (die kriegerische Linke) teils zerschlagen, teils unter Kontrolle gebracht, teils eingegliedert werden mußte, und sympathisierende Massen, von denen es zu Zeiten der sogenannten RAF nicht wenige gab, politisch in Disziplin genommen werden mußten. Das ist der materielle und substantielle Hintergrund auch der Berufsverbote. Der revoltierenden Jugend, deren Über-Mütchen zu kühlen eine undankbare Aufgabe war, fehlte der Instinkt für die Gefahren - oder sie war todesmutig. »Freiheit oder Tod« war die Parole derer, die in der Weimarer Republik gegen die »Knechtschaft des Versailler Diktates«, 1953 gegen die »Diktatur der Russen« in der DDR und seit 1967/68 in der BRD und von Tokio bis Rom gegen den völkermörderischen Yankee-Imperialismus revoltierten und zu Felde zu ziehen versuchten. Dies ist auch heute noch ihre Parole: »Wir werden Menschen sein oder die Welt wird untergehen bei dem Versuch, es zu werden.« Rosa Luxemburgs Satz dagegen konnte ihnen nicht einleuchten: »Wir wollen eine Welt, in der wir alle ruhigen Gewissens lieben können, auch um den Preis hassen zu müssen, um dieses Ziel zu erreichen.«


Politik als Beruf

 Die deutsche Erhebung ist bereits im Gange. Es fragt sich nur noch, wohin sie führen wird. Als das »Manifest der demokratischen Kommunisten« in der DDR die nationale Frage stellte und die Öffentlichkeit beschäftigte, erwies sich, wie sehr die Sozialdemokratie in der Klemme steckt. Nicht zuletzt Schmidt muß dazu beitragen, die Diktatur der »restriktiven Rahmenbedingungen« noch spürbarer zu machen. Das verlangen die »Trilateralen« von ihm. Helmut Schmidt ist wohl einer der klügsten Politiker, die Deutschland jemals hervorgebracht und auch an die Macht gelassen hat. Er hat ja auch Max Webers Lehrbuch eingehend studiert. (Aber er ist nicht nur klug. Als der »Sieger von Mogadischu« kurz nach geglücktem Unternehmen zum ersten Male mit seinem Freund Wischnewski sprach, waren seine ersten Worte: »Hans-Jürgen, ich umarme Dich von Herzen.« Hier haben wir einen intelligenten »Berufspolitiker« vor uns, der seine Aufgabe nicht nur ernst nimmt und mit dessen Verantwortungsgefühl wir durchaus mitfühlen können. - Ein starker Kanzler, der dies zu seinem Helfer in der Not, zu seinem Freund und Genossen sagt, muß ohne Frage auch Vertrauen erwecken.)

 Dagegen erscheint sein schärfster Kontrahent FJS nur wie ein unbändiger Yankee-Kollaborateur, der er ja auch zu Beginn seiner »politischen« Laufbahn war. - Doch geht der Kanzler Schmidt den Weg des politischen Technokraten, auch dabei seinem Lehrmeister Max Weber getreu: Rationalisierung der Probleme unseres Landes und der Welt. Bei diesem amerikanischen Präsidenten und seinem Hauptberater ist das allerdings schon Leistung genug. Nicht zuletzt seine militärische Ausbildung hilft ihm dabei, in diesem Lande die Rolle des Offiziers gegenüber der Linie durchzusetzen. Die Massen haben geführt zu werden und dementsprechend zu spuren. Ein deutscher Fall.

 Nicht Helmut Schmidts unter den heutigen Bedingungen letztlich kluger Politik soll hier das Wort geredet werden. Ein verantwortungsbewußter und keineswegs »opportunistischer« Pragmatiker wie er muß schließlich »unpolitisch« bleiben. Da seine Lebenserfahrungen zum großen Teil die gräßlichen der Alten und die der im »Dritten Reich« enttäuschten Jungen sind, darf keiner von ihnen erwarten, daß er Ziele verwirklichen kann und will, die Richtpunkt und Wert nicht allein von sozialistischer, sondern von »Politik« überhaupt sind: die Emanzipation der Menschen von unmenschlichen Verhältnissen. Nur gibt es für Sozialisten derzeit zu Schmidt keine Alternative. (Auch für das bürgerliche Deutschland nicht!) Es bleibt derzeit nichts anderes übrig, als sich in die Sozialdemokratie des Helmut Schmidt loyal einzuordnen. - Doch niemals dürfen Sozialisten vergessen, welche Menschheitsziele mitzuverwirklichen sie sich vorgenommen haben.

 Sie haben die »Berufsverbote« nicht zu vertreten und können es auch nicht. In ihrem Interesse aber muß es liegen, daß die Sozialdemokratie stark bleibt und noch stärker wird. Die Frage des Sozialdemokratismus ist eine andere - sie wird auch gelöst werden.

 Weil es sich so verhält, wird das Russell-Tribunal von vielen Sozialisten als eine Unverfrorenheit von bornierten bürgerlichen Intellektuellen empfunden, die sich leichthin anmaßen, über den fortschrittlichsten Staat der deutschen Geschichte zu Gericht zu sitzen. Die Epiphänomenologie des Tribunals (Russellites, d.h. Ideologen des moralischen Pazifismus, und Existenzialisten, d.h. späte Ideologen der individualistischen Resistance), dieser anachronistische Jakobinerverschnitt muß bekämpft werden. Ihr letztlich reaktionäres Unterfangen, das als Vorurteil noch toleriert werden könnte, betreiben sie mit einer heuchlerischen Demagogie, die Sozialisten ihnen nicht gestatten können. Sie haben sich angemaßt, über die Situation der Menschenrechte in der BRD ein Urteil zu fällen, ohne auch nur Bruchstücke einer Antwort darauf geben zu können, wie sich die Gesellschaft in der BRD und anderswo wissenschaftlich und wirklich verändern läßt. Deshalb war ihr groteskes Verfahren eine vollständige Pleite und überflüssig. Es geht in der BRD, der DDR und anderswo um etwas ganz anderes:


Die Reform des Bewußtseins besteht nur darin, daß man die Welt ihr Bewußtsein innewerden läßt, daß man sie aus dem Traum über sich selbst aufweckt, daß man ihr ihre eigenen Aktionen erklärt. Unser ganzer Zweck kann in nichts anderem bestehen, wie dies auch bei Feuerbachs Kritik der Religion der Fall ist, als daß die religiösen und politischen Fragen in die selbstbewußte menschliche Form gebracht werden.
Unser Wahlspruch muß also sein: Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann zeigen, daß die Menschheit längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich dann zeigen, daß es sich nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit. Es wird sich endlich zeigen, daß die Menschheit keine neue Arbeit beginnt, sondern mit Bewußtsein ihre alte Arbeit zustandebringt.
Wir können also die Tendenz unseres Blattes in ein Wort fassen: Selbstverständigung (kritische Philosophie) der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche. Dies ist eine Arbeit für die Welt und für uns. Sie kann nur das Werk vereinter Kräfte sein. Es handelt sich um eine Beichte, um weiter nichts. Um sich ihre Sünden vergeben zu lassen, braucht die Menschheit sie nur für das zu erklären, was sie sind.

Karl Marx über den Beruf von »sozialistischen Intellektuellen«
und all derer, die wirklich an der Zukunft arbeiten wollen

   

 Es geht darum, das überschüssige (unglückliche) Bewußtsein (Rudolf Bahro) so zu reformieren (zu verändern), daß bewußtes Sein (menschliches Denken, Fühlen, Handeln) in der Welt-Gesellschaft möglich wird!




 (*) Editorische Bemerkung: Laut dem Verfasser war dieser »Schubladentext« vom Frühjahr 1978 zur Veröffentlichung in den Studien von Zeitfragen gedacht. Der Herausgeber konnte jedoch damals nicht davon überzeugt werden, daß eine solche Kommentierung des Bewußtseinszustandes der »Linken« in Westdeutschland angebracht gewesen wäre. Es bleibt dem heutigen Leser überlassen, ob diese Ablehnung nicht bereits ein Symptom für eine sich verbreitende Neigung war, sich dem »Aussprechen dessen, was ist« (Rosa Luxemburg) zu entziehen, obwohl doch das wahrheitsliebende Denken von den erkannten Widersprüchen der Wirklichkeit bereits zu bersten schien. Die Angaben zum Verfasser, die er den Studien damals übergeben hatte, lohnen ihre Anführung auch hier und heute.

  

David Hartsteins »Legende« - für allen künftigen Gebrauch:

Der Verfasser, Kleinbürgers- und Schlüsselkind, hat Ähnlichkeiten mit der Bundesrepublik Deutschland: er wurde zur Zeit der Währungsreform gezeugt, erblickte aber schon im März 1949 das Licht des Tages, nachdem er zunächst totgeboren schien.

Nachdem es seinen Eltern gelungen war, ihn ins Leben zu prügeln, hat er nach Kräften versucht, sich selbst darin zurechtzufinden. Zu diesem Ende hat er auch eine Reihe von Zeitfragen, vor allem der deutschen Vergangenheit, mit Grauen und Entsetzen studiert.

Wißbegierig wie er war und immer mehr wurde, hat er an der Universität und seit 1970 in seiner arbeitsfreien Zeit eine Menge Bücher gelesen - natürlich zu viele.

Heute lebt er von dem Gehalt, das er als Angestellter verdient, in Frankfurt und hofft, daß Menschen einst vor allem in Frankfurt selbst eines Tages freiwillig und gern leben können.

In seiner Freizeit arbeitet er an den Studien von Zeitfragen mit.«