Studienbanner_kleinStudien von Zeitfragen
35. Jahrgang InternetAusgabe 2001
Jahrbuch 2001
Zeitfragen
Global
Weltfinanz
Weltmacht
Deutschland
Mnemeion
Suche / Archiv
Impressum
Weltwirtschaft
De Pace Fidei
Protuberance
Bescherung
Staat mit 1968
Logik
Nachtrag 1967
Nachtrag 1967/II
Kriegsfragen
Gerechter Krieg
Neue NATO?
Mazedonien
Poiesis
Gettysburg

Wert, Preis, Ertrag

 

Von Exuberance zu Protuberance

Negativer Irrationaler Überschwang
und spekulativer Empirismus
 

von Georg P. Christian
 

 Man muß sich nicht wie ein Guru vorkommen, um die Voraussage zu wagen, daß der 20. Dezember 2000 in die Finanzgeschichte eingehen wird – als der Tag, an dem »die Märkte« über die Blase, deren Aroma sie so lange gierig geschnüffelt haben und deren Binnendruck ihnen mitunter schon Ohren und Nasen zu verstopfen schien, mit einem Mal von immerwährender Betörung endgültig in den Zustand der Verstörung übergegangen sind. Indiz dafür ist eine kleine Glosse in der FAZ, deren Ergebnis einen so zerzausten Eindruck hinterläßt wie die Frisur der Fernsehmoderatorin, in deren Anblick sich dem Verfasser das Stimmungsbild der »Anleger« am treffendsten darzustellen scheint.

 Nun findet der kluge Kopf, den wir stets hinter der aufgeschlagenen FAZ zu vermuten angehalten werden, diesen kleinen Artikel aber nicht etwa im Finanzteil und dort gar noch geschrieben von dem leitenden Redakteur, dessen Name einen immer wieder an »das Beste im Mann« erinnern muß, sondern im Feuilleton, und dort nicht einmal auf der ersten Seite. Eine kleine Dienstleistung zur Verstärkung von Verstörung darf man den Anlegern unter den Lesern des Feuilletons ja durchaus vor Weihnachten zukommen lassen. Aber es läßt immerhin aufmerken, daß wenigstens an dieser Stelle versteckt einige Feststellungen getroffen werden, die den meisten der seit mehr als einem Jahr in der Abteilung Finanz der Zeitung ausgebreiteten Humbug dementieren. Dem Verfasser führte da die Realität ein wenig die Hand und der Nachhall eines Ereignisses für (das manchmal eben dörfliche) Frankfurt: ein Vortragsbesuch des amerikanischen Ökonomen Robert J. Shiller am 12.12.2000 im Frankfurter Institut für Kapitalmarktforschung.


Die Zeitung des Finanzplatzes Frankfurt

 Wir waren es bei der Frankfurter Allgemeinen lange gewöhnt, daß dort die Funktionen und Dienstleistungen ziemlich effektiv aufgeteilt sind. Keine deutsche Zeitung ist so übersichtlich gegliedert und in Hefte oder Bücher eingeteilt. Manchmal geschehen Übergriffe ins anderes Ressort, wenn zum Beispiel ein Redakteur im Feuilleton Weisheit, Geschick und Unparteilichkeit des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten anzweifelt, während die Glossen im Ressort Politik eher matt ausfallen. Aber wenn`s ums Geld der Frankfurter, um das der Leser der Frankfurter, oder gar ums investierte Geld der Gesellschafter der Frankfurter geht, hält sich gewöhnlich das Feuilleton heraus. Insofern ist eine solche Glosse auch ein Symptom von Zerzausung bei dieser Zeitung, die der Börse, den Banken, dem Finanzkapital in Frankfurt so nahe steht wie ein Mitgesellschafter seinem Kompagnon in einer GmbH.

 Alle Teilhaber und Teilnehmer nämlich, die im Apparat des Frankfurter Finanzplatzes funktionieren und Geld verdienen, sind ohne Frage von der Globalisierung als epochaler Entwicklung und Tatsache durchweg überredet. Sie sind obendrein die beredtesten und lautesten Fürsprecher des Globalismus und des Dahinschwindens der Nationen und Staaten als Konsequenz der Wucherungen eines weltweiten Finanz(-kapital)-marktes, dessen Volumen sich in den letzten zehn Jahren schneller aufgebläht hat als die Vorstellungen von einem internationalen Wirtschaftsverkehr folgen können. Im Größendrang dieses Finanzplatzes, dem bereits die Europäische Zentralbank vom alten Bundeskanzler beschert wurde, folgt ihnen auch mit kommentierender Distanz die FAZ als Zeitung des Frankfurter finanzkapitalistischen Zentrums und versieht dabei vorzüglich die Aufgabe des In-Form-Bringens, der Information der deutschen Führungskräfte, denen sie sich so überaus erfolgreich als Leitorgan anbietet.

 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung verarbeitet, prototypisch, gleichsam als Recycling-, d. h. Verwertungs- und Wiederverwertungs-Maschine, das überschüssige Bewußtsein aller Führungskräfte in Deutschland bzw. derer, die durch Kauf der Zeitung in diese verbrauchende Schicht kurzzeitig eintreten. Und nur wenn sich die Leser dickköpfig nicht zur Führungsschicht schlagen und sich eisern der Lektüre vieler politischer Kommentare und vor allem des Wirtschafts- und Finanzteils enthalten, sind sie einigermaßen davor sicher, mit dem feingesponnensten, aber nachdrücklichsten ideologischen Klassenkampf konfrontiert zu werden, der seit nahezu zwanzig Jahren nicht nur zwischen die Zeilen der Zeitung einfließt: Gemeint ist der neoliberale Krieg gegen die sozialstaatlichen Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland mit dem taktischen Ziel der Aufhebung der »rheinischen Republik« zugunsten des »angelsächsischen Modells«. Sie ist damit das Organ des verallgemeinerten Interesses des Finanzkapitals in Deutschland als Institution. Und sowohl Verlag als auch Zeitung sind sogar, soweit das privatrechtlich möglich ist, als Institution rechtlich und organisatorisch verkörpert: Inhaber dieser Zeitung ist eine Stiftung, Herausgeber der Zeitung ist ein Kollegium, in dem die einzelnen Sparten- oder Heftleiter annähernd im Proporz vertreten sind.

  Noch von den zwanziger Jahren her bis zu ihrem Verbot und erneut mindestens seit den siebziger Jahren genießt das Feuilleton der Frankfurter Zeitung (1949 als Frankfurter Allgemeine Zeitung neu gegründet – damit die einzige große deutsche Zeitung, die ihre Entstehung nicht einer Lizenz der Besatzungsmächte verdankt) den Ruf einer liberalen, offenen und toleranten Plattform und als Zuflucht von Ansichten und Meinungen zu den Weltzuständen, die entweder im politischen oder wirtschaftlichen Teil nicht öffentlich werden dürfen, weil das liberale Interesse als Kapitals-Interesse es nicht zulassen kann oder weil die Sprachregelung, wie unter den Nationalsozialisten, Abweichungen von der national-hysterischen Mobilmachung verbietet.

 So war das Feuilleton der FAZ eigentlich schon immer ein Markt der Möglichkeiten – der letzten Möglichkeiten öffentlicher Verwertung von Ansichten, Sichtweisen, Meinungen und von Autoren, die in den anderen Rubriken der Zeitung nichts verloren hatten. Das Umblättern von der letzten Seite der Kurse an den Terminmärkten zur ersten Seite des Feuilletons ist der Grenzgang zwischen zwei Welten: von der Welt des Zwangs, das zu realisieren, wozu die Verwertung des Kapitals den Vermögensbesitzer zwingt, obgleich sie ihm als Welt des laisser faire eine liberale (gar der Freiheit) zu sein scheint, in die Welt des laisser penser, in der alles, was den Geschmacksnerven des Zeitgeistes frommt, als gleich gut gilt, wenn es nur für das Auge des Lesers fein und funkelnd genug geschliffen und poliert worden ist. Im Feuilleton der FAZ ( – und von diesem läßt sich als einem ausgereiften und erfolgreichen Muster sprechen – ) kommt allem Anschein nach der Trieb zum Spiel mit der Realität zu seiner vollen Ausbreitung, in der selbst der deutlichste Widerspruch zu den politischen Glossen nebenan immer nur einer der Ästhetik, der Wahrnehmung, niemals jedoch einer des Willens, also des Einspruchs zu werden drohen kann.

 So wie es der Leser des Wirtschafts- und Finanzteils mit der Spekulation und der Leser des politischen Teils mit der gesellschaftlichen Macht bitter ernst meinen, so heiter, gelassen und spielerisch meinen es Autoren und Leser mit der Spekulation im Feuilleton. Das Feuilleton bietet Raum für »dokounta«, das ihnen scheinende, wie eine altüberlieferte Übersetzung lautet, der Wirtschafts- und Finanzteil hingegen zwingt Produzenten wie Lesern der Zeitung das gesellschaftliche Sein auf. Das Feuilleton, und das der Frankfurter Allgemeinen als einem der am besten gelungenen Gebrauchsmuster, ist eine wesentliche und maßgebliche Produktions- und Verwertungsstätte des überschüssigen Bewußtseins – pikant ist nun der Moment, in dem dieses »exuberante« Bewußtsein seine Wahrnehmungen des exuberanten Seins ausspricht und damit kundgibt, daß bereits die ersten Protuberanzen zu wirken angefangen haben.


Die »Neue Ökonomie« und die
beharrenden Einsichten aus der Geschichte

 Mit seinem Erscheinen in Frankfurt hat Robert Shiller ins Frankfurter Finanzdorf die notorische Skepsis einer nicht sehr lautstarken Minderheit in der amerikanischen Ökonomenöffentlichkeit mitgebracht. Vorgetragen zuerst von Robert Gordon, wollte diese Minderheit mit ihren Zweifeln an den Schätzungen der Produktivitätsgewinne der IT-Industrie und ihren Auswirkungen auf die US-Wirtschaft allgemein seit etwas mehr als einem Jahr einfach nicht verstummen. Zumal es gut überlegte Vorbehalte zu bedenken galt, nicht gegenüber der Herausbildung einer »Neuen Ökonomie«, die nicht nur neue Bereiche und Methoden der Warenerzeugung erschließt, aber dagegen, daß damit auch alles sonst nach »neuen« ökonomischen Regeln funktionieren soll. Die Anzahl der hierzu kontroversen Papiere, über die der Economist   seine Leser immer wieder auf dem Laufenden gehalten hat, ist beträchtlich angewachsen.

 Während die Diskussion zwischen Skeptikern wie Gordon und im Zweifel optimistischen Ökonomen wie Jorgenson sich vor allem um Auswahl, Verläßlichkeit und Aussagekraft der statistischen Daten, vor allem im Vergleich zu den 60er Jahren, abspielt, und über den Atlantik hinweg von Deutschland ( – zum Beispiel der Deutschen Bundesbank – ) aus auch schon die Frage nach der berechtigten Geltung von »hedonischen Preisanpassungen« gestellt worden ist, geht Robert J. Shiller bei seiner Untersuchung dieser Fragen eben nicht nur nach Kriterien der »behavioral finance«, sondern auch mittels historischer Analyse vor, und zwar der Entwicklung der amerikanischen Aktienmärkte seit 1871.

 Nach seinem Vortrag am 12.12.2000 im Frankfurter Institut für Kapitalmarktforschung äußerte er sich in einem Interview mit der FAZ ( – hier allerdings mit dem Finanzressort! – ) zur spekulativen Blase der sogenannten Technologiepapierwerte zu diesen Fragen so:

Rechtfertigen die Neuen Technologien steigende Kurse nicht?

Wir haben im vergangenen Jahrhundert technische Neuerungen gesehen, welche die Welt verändert haben: das Auto, das Telefon, das Fernsehen, das Radio - und dennoch sind die realen Gewinne im vergangenen Jahrhundert durchschnittlich zwei Prozent gestiegen, und das in einem Jahrhundert, das für die Vereinigten Staaten sehr erfolgreich war. Warum sollte es in diesem Jahrhundert zu signifikant größeren Wachstumsraten bei den Gewinnen kommen? Die Märkte preisen derzeit ein Gewinnwachstum von etwa dreieinhalb Prozent ein - wo soll das herkommen?

Die Neuen Technologien bringen also nichts für das Wachstum?

Doch: Die Neuen Technologien - das Internet, die Biotechnologie, das Mobiltelefon - sind sehr beeindruckend, und wir brauchen sie auch, um das gegenwärtige Wachstumstempo zu halten. Aber wieso sollten sie die Gewinne überdurchschnittlich steigern? Darauf besteht nur eine geringe Aussicht. Genausogut ist es möglich, daß die Gewinne sich auf lange Sicht ähnlich wie in der Vergangenheit entwickeln werden.

Ist die sogenannte Neue Ökonomie also nur heiße Luft?

Wenn man einen Blick in die Literatur wirft, so stellt man fest, daß die Begriffskombinationen Neue und Alte Ökonomie erst in diesem Jahr in Mode gekommen ist. Die Menschen merken gar nicht, wie sehr sie von den Medien und von Mundpropaganda beeinflußt werden. Die Neue Ökonomie ist auch eine Kreatur der Medien, die gerne neue Begriffe erfinden und plausible Geschichten erzählen möchten. Daß eine Wirtschaft vielleicht in langsamen, ruhigen Schritten wächst, ist für die Leser nicht sonderlich spannend, daran sind die Medien nicht interessiert.

Haben sich die Anleger von der Geschichte der Neuen Ökonomie blenden lassen?

Der größte Fehler des Menschen ist es, daß er seine Aufmerksamkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt nur auf wenige Dinge fokussieren kann - das können dann oftmals die falschen Dinge sein. Man neigt dazu, seine Aufmerksamkeit auf Dinge zu richten, die auch die Menschen im eigenen Umfeld interessieren; was das Umfeld ignoriert, ignoriert man selbst auch. Die Aufmerksamkeit für bestimmte Themen erklärt sich durch die öffentliche Meinung - da bleibt es nicht aus, daß man sich auf die falschen Themen oder Aspekte konzentriert. Wir reden über Aktien, weil alle darüber reden. Der Fehler: Wir richten unsere Aufmerksamkeit zu sehr nur auf Klatsch, Bedrohungen oder Chancen. Wir reden nur über Einzelwerte oder plausibel klingende Geschichten wie die Neue Ökonomie, aber nicht über so schwierige Dinge wie beispielweise Portfoliodiversifikation - das erscheint dem einzelnen wohl auch nicht so interessant.

 Shiller gab diese Antworten und seine Zusammenfassung der Realität der vox populi immerhin schon eine Woche nach einer Rede des Chairman des Federal Reserve Board Alan Greenspan bei der America's Community Bankers Conference am 5.12.

  Dort stellte Greenspan bedenkliche Vergleiche mit 1998 an, immerhin einem Jahr, in dem sein Eingreifen beim drohenden Kollaps des LTCM-Fonds nach Bekundungen vieler Zeitzeugen eine »Systemkrise der globalen Finanzbeziehungen« verhindert hat:

»To be sure, our current circumstances are in no way comparable to those of 1998. Financial markets have continued to function reasonably well, and credit continues to flow, although admittedly with reduced availability to less-than-investment-grade borrowers and at interest spreads sufficiently elevated to press on profit margins of those lower-rated borrowers. Both lenders and borrowers are reassessing their positions in light of an apparent uptick in domestic risks, but the palpable fear that dominated financial markets at the height of the crisis two years ago is not now in evidence. Net funds raised by nonfarm, nonfinancial business are estimated to have risen in November from October levels, though remaining below the rates of earlier this year.«

 
Einen Tag später ging sein Stellvertreter, Roger W.
Ferguson, Jr. vor dem Rochester Institute of Technology auf die Frage des technologischen Wandels und des Produktivitätswachstums etwas genauer ein und verwies in seinem Vortrag auf 4 Risiken für die wirtschaftliche Entwicklung der Vereinigten Staaten in der überschaubaren Zukunft. Das dritte und vierte Risiko sollten hervorgehoben werden, insofern sie die angeführten Bemerkungen, die dem Leser wie immer Greenspanisch vorkommen müssen, unterstreichen:

»The third risk is that the capital inflows from abroad that have been funding our domestic investments may dry up. The elevated stock market has reduced household savings. Net government saving has increased greatly, in the form of the surplus at the federal, state, and local levels, but as a nation we also rely on capital inflows from overseas. Capital inflows, as you know, are the counterpart of our record current account deficit. The gap between domestic savings and investment is large and growing, and if the inflow of foreign capital reversed suddenly, the consequences for our economy would be noticeable.

A fourth risk arises from ongoing adjustments in financial markets to the perception of a riskier economic environment. Over the course of this year, commercial banks have tightened their lending standards, and quality spreads have increased in the bond market--especially in the high-yield sector. Activity in the IPO market has subsided as equity investors have turned away from riskier ventures. Taking into account also the decline in equity prices since the spring and the rise in the foreign exchange value of the dollar, financial markets are imposing more restraint on the economy than they have in recent years. A reassessment of risks is a natural and desirable byproduct of financial market adjustments, and of returning to more sustainable economic conditions. There is always a danger, however, that participants will overreact in such a period of adjustment.«

 Im Klartext weisen diese Äußerungen letztlich dramatisch darauf hin, daß das Finanzsystem der Vereinigten Staaten unter Streß stehen und die Federal Reserve vor der Frage stehen muß, ob ihre Zinserhöhungsserie zur Abwendung von Inflation und zur Kontrolle des Drucks der spekulativen Aktienblasen zu beenden oder gar umzukehren ist.

 Was jetzt folgte, bestätigt die von Shiller gegeben Beschreibungen des Massen- und Medienverhaltens aufs Beängstigendste. Wie die Finanzwelt mittlerweile stillschweigend voraussetzt, kann Alan Greenspan nicht nur auf Wasser gehen, seine Ausdrucksweise, das Greenspanisch, bedarf auch immer einer bestimmten Deutung und Verwertung. Irgendwelche Schlauköpfe müssen die Sprachverschlingungen der Pythia ja in etwas Empirisches übersetzen. Dieses Geldstromlenkungskauderwelsch soll ja auch die Funktion haben, den »Märkten«, insbesondere den die Marktbewegung bestimmenden Marktteilnehmern zu signalisieren, wo`s lang gehen wird und worauf sie setzen können.

 Es ist wohl als Axiom anzunehmen, daß die Beschreibungen der Wirklichkeit (wie sie die Federal Reserve mit ihrer Datenempirie zu erkennen annimmt) und die Hervorhebungen dessen, was für wahrnehmenswert unterstellt wird, nur im Zusammenhang mit Lage und Bewegung der amerikanischen Wirtschaft als Teil der Weltwirtschaft gedeutet werden können. Wenn schon das überragende Merkmal der Entwicklung der neunziger Jahre die »Globalisierung« gewesen sein soll, dann sollte eine aufmerksame Beobachtung der Tatsache gebührend Rechnung tragen, daß die Wirtschaft Amerikas ein Teil der Weltwirtschaft, Teil eines Ganzen ist – und nicht diese globale Wirtschaft allein und selbst. Greenspan ist dies natürlich bewußt, nur der spekulativen Herde an der Wall Street und anderswo nebst ihren Verstärkern in den Medien nicht. Dort nahm man nur »meine Aktien« wahr - und schrieb und versendete prompt die Mär von den zu senkenden Zinsen zur Stützung der Aktienkurse oder gar zur Anzettelung eines Jahresendaufschwungs. Wall Street verstieg sich in einen Erwartungstaumel, war sich mit 20-40%iger Wahrscheinlichkeit (oder so) beinahe sicher, daß für den 19. Dezember mit einer »Zinswende« ( – und wenn auch nur der verdeckten Ankündigung einer solchen – ) zu rechnen wäre und begann schon fast damit, niedrigere Zinsen in die Kurse »einzupreisen«. Für Shiller ein willkommenes Beobachtungsobjekt, falls er rechtzeitig von seinem Abstecher nach Europa zurückkommen konnte.

 Am 20. Dezember stellten sich die 40%igen Erwartungen einer Zinswende und die 60%igen Hoffnungen auf die implizite Bestätigung einer Absicht, vielleicht bei der nächsten Sitzung des FOMC dann die Wende einzuleiten, als das Platzen einer »Blase der Erwartungen« heraus und lösten, zusammen mit den Bilanznachrichten verschiedener »Technologie«-Firmen und Verkaufsaufforderungen anstoßenden Herabstufungen durch Analysten, eine Verkaufswelle aus, die nahezu alle Indizes auf ihren Tiefstkurs brachte.

 Es ist nicht auszuschließen, daß nach dieser »Blase der Erwartungen«, genauer gesagt: nachdem sich die »Wall Street« aus Wunschdenken erstmal richtig im Hinblick auf den Bedingungsrahmen und die Intentionen des FED-Präsidenten verkalkuliert hatte, ein Prozeß eingeleitet worden ist, der auch die Blase der Papierwerte zum Platzen bringt. Was hier geschehen sein könnte, ist eine »reverse leverage« in der Psychologie der Marktteilnehmer, die noch nicht begriffen haben oder nicht wahrhaben wollen, in welchem Dilemma sich die Federal Reserve befindet, und deren falsche und bornierte Reaktion, im Einklang mit dem vorwaltenden spekulativen Empirismus dieses Marktes, eine verheerende Gegenbewegung gegen den ganzen Unfug, von dem Shiller in seinem Interview nur behutsame Andeutungen gibt, nicht nur bei den bedingenden (»Marktmachern«), sondern vor allem bei den bedingten Marktteilnehmern (»Privatanlegern«, vulgo: »sucker«) in Gang bringen könnte. Zu den hier zu berücksichtigenden »Gesetzmäßigkeiten« ist sicherlich das Buch »Irrational Exuberance« ganz nützlich, aber in kürzerer Form gibt darüber auch ein Papier Shillers Aufschluß, »Human Behavior and the Efficiency of the Financial System«, das unter der Adresse erhältlich ist.

  

Kapitalzuflüsse und der Dollar

 Wo aber liegt nun Greenspans Dilemma, das er zwar angesprochen hat, was aber der Herde an der Wall Street so Greenspanisch vorgekommen sein muß, daß sie nicht richtig hingehört und die Wirklichkeit immer noch nicht mitbekommen hat?

 In den SvZ wurde bereits auf eine Rede des Chefs der New Yorker Federal Reserve, William McDonough, hingewiesen, in der er sich unmißverständlich zur Unhaltbarkeit des amerikanischen Leistungsbilanzdefizits geäußert hatte.

 Das Problem liegt in der Abhängigkeit der US-Wirtschaft von Rekordbeträgen an Auslandskapital und damit auch von der Flüchtigkeit des in den USA angelegten »hot money«. Darin ist das Gegengewicht zu sehen zu der Rekordtiefen erreichenden niedrigen Sparrate bei den Haushalten in den letzten zwei Jahren und dem immensen Wachstum der Kredite an Unternehmen und Verbraucher. Daß dies nicht endlos fortgesetzt werden kann, steht fest. Fraglich ist nur, wann die Grenze erreicht ist.

 In den 12 Monaten bis Juni 2000 sind nach den letzten verfügbaren Daten der Federal Reserve von St. Louis Auslandsanlagen in Höhe von 840 Milliarden US$ zum Kauf von Aktien, Anleihen und anderen Vermögensanlagen in die USA geflossen, ein Zufluß von Kapitalbeträgen aus dem Ausland, den es in der amerikanischen Geschichte in dieser Höhe noch nie gegeben hat. Das liegt einerseits an der gegenwärtigen »Stärke« und an der einzigartigen Stellung der amerikanischen Ökonomie, verglichen mit Japan oder Europa. Andererseits ist aber auf so hohem Niveau die Einzigartigkeit dieser Stellung der US-Wirtschaft nicht aufrechtzuerhalten, wovor Greenspan und die FED wiederholt gewarnt haben, während sie gleichzeitig bemüht waren, den Märkten nicht das Gespenst von der Verwundbarkeit des Dollar aufzureden. Die Verlagerung von Vermögen aus Europa in Kapitalanlagen in den USA erklärt auch zum großen Teil die 27%ige Abwertung des Euro gegenüber dem Dollar seit 1999.

  Anders aber als in den 80er Jahren, als Japaner das Haushaltsdefizit der USA finanzierten, indem sie regelmäßig 40% der neu aufgelegten Regierungsschulden übernahmen, gehen die Auslandskapitalzuflüsse derzeit in private Aktien- oder Anleiheninvestitionen. Nun gibt es aber keinen strategischen Atomschirm mehr über Europa, der es den Banken aus Euroland zwingend nahelegen würde, ihre Anlagen in Dollarvermögenswerten zu belassen. Sobald die USA als relativ weniger attraktiver Anlageplatz angesehen würde als Euroland, werden die neuen Kapitalströme versiegen oder Kapital wird abgezogen werden. Ein schwächerer Dollar wäre die Folge. Das ist zwar noch nicht geschehen, aber die Kugel ist auf die Spitze des Kegels gelegt worden, und wehe wenn es zu einer Verschiebung auch nur in der Wahrnehmung der Anlage- und Ertragsaussichten käme.


Das Greenspan-Dilemma

 Was also wird die Federal Reserve tun, wenn der wirkliche Gang der amerikanischen Wirtschaft offenkundig wird? Die Märkte sind vermutlich unerschütterlich davon überzeugt, daß Greenspans Fed sofort auch nur die geringste Gefahr einer Rezession in den USA mit Zinssenkung beantworten und die Kreditbremsen der letzten 18 Monate lockern wird.

 In Wirklichkeit aber, stellte Kurt Richebächer, der einmal in den siebziger Jahren der »Chef«-Ökonom der Dresdner Bank war, in einem seiner polemischen und stets warnenden Briefe im August unter der Überschrift »On borrowed time« fest, steht ihm das Catch-22-Dilemma seines Lebens bevor – und »Angst vorm Fliegen« wäre nur zu verständlich. Richebächer faßt das Problem des amerikanischen Finanzsystems als eine der Vielfalten in der Einheit des Globalsystems in einem denkbaren Szenario so:

»In order to get some idea of the looming risks, it is necessary to also visualize the market dynamics that are sure to come into operation once the dollar starts its definite decline. An important point to keep in mind is that any slowdown in investment and credit inflows relative to the current-account deficit and U.S. capital outflows instantly weakens the dollar. Yet, pondering potential, dangerous market dynamics, we see the incalculable, greatest hazards in the linkage between existing dollar trillions in foreign hands and the futures and derivatives markets.

Their owners may be slow in unwinding their positions by selling their dollar assets outright and converting the proceeds into euro or yen. Many of them, however, will be inclined to play at least temporarily for safety and lock in the dollar value by selling the U.S. currency forward through the futures and derivatives markets. As heavy, one-way selling of this kind develops, the institutions making these markets are, in turn, compelled to hedge their forward purchases of dollar entirely by selling correspondence amounts in the spot market.

In this way, the forward sales will immediately translate into correspondingly large spot sales of dollars. It is this reflection in particular that frightens us of a possible, it not probable sudden bandwagon effect against the dollar, once the confidence in its stability begins to wear off. There is no precedent in history where the economy of the world`s major currency vehicle has been so preposterously out of balance.

A sliding dollar will, in turn, promptly close the spigot of capital inflows - with dramatic effects on the U.S. financial markets, showing up in plunging stock and bond prices, that is, in rising market interest rates. The resulting crunch in the financial markets is the link through which the plunging dollar will rapidly spread recession. The hard landing has arrived.

What will and can Mr. Greenspan do under these circumstances? Slash interest rates? Before long, it will dawn on him and the markets that his freedom to pilot the economy away from the threatening recession through easier money is less than zero. As this alarming realization spreads, it is sure to precipitate the dollar`s slide into a free fall. Hoping to prevent a bottomless dollar crash with inflationary implications, the Fed will probably feel compelled to raise its interest rate and tighten its monetary reins which, by the way, has always been normal policy for normal countries. The important point is that a responsible and prudent central banker will never allow such stupendous internal and external imbalances to develop.«

  Nach diesem Bühnenbild würde die »umgekehrte Hebelwirkung« in der Psychologie zu einer der derivatgetriebenen der Buchwertströme umschlagen. Fragt jemand noch, ob es so etwas geben kann wie eine qualifizierte Vernichtung des irrationalen Überschwangs in bisher nie gesehenen Protuberanzen? Le Figaro rühmte Dr. Richebächer einst als den Mann, der die Asienkrise vorausgesagt hatte. Mit diesem Wissen konnte man durch die Asienkrise und in der Asienkrise große Spekulationsgewinne einfahren. Welche Kapitalorganisationen von der Asienkrise am meisten profitiert haben, läßt sich hier nachlesen. Und dann könnte man auch, frei nach Aristophanes, so fragen: Hat der delphische Apollon je durch die nephelai der Spekulation hindurch Eulen nach Athen getragen?

 Zum Thema 

Dazu aus der Washington Post, ein Vierteljahr später:

Why Market Insiders don`t feel the Pain