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1967 - 1978

 

Die mündigen linken Staatsbürger

und die Segnungen des Russell-Tribunals

von David Hartstein

in Zusammenarbeit mit Carl Winter (*)

(Im Frühjahr 1978 nach dem sogenannten zweiten Russell-Tribunal)

 

Wenn die Anhörungen nicht geeignet sind, die Verfassungstreue eines Bewerbers festzustellen, so sind sie jedenfalls dazu geeignet, einer ganzen Generation ein eigenständiges politisches Denken und Handeln abzugewöhnen.

Peter Schneider in seinem Gutachten für die Jury

Wie groß auch immer der Wille zur Unparteilichkeit und Universalität sein mag, wir sind uns darüber im klaren, daß er nicht ausreicht, unser Unternehmen zu legitimieren. Was wir in Wahrheit wollen, ist, daß seine Legitimität sich in der Retrospektive bestätigt oder, falls man dies vorzieht, eine Legitimität a posteriori sei. Aus diesem Grunde arbeiten wir weder für uns selbst noch zur eigenen Erbauung und wir machen uns nicht vor, daß unsere Entscheidungen wie ein Blitzschlag einschlagen werden. In Wirklichkeit hoffen wir, dank der Zusammenarbeit mit der Presse, eine Verbindung zwischen uns und den Massen aufrechtzuerhalten, die in allen Teilen der Welt die Tragödie Vietnams schmerzlich erleben.

Wir hoffen, daß sie mit uns die Berichte, Dokumente, die Zeugenaussagen zutage fördern werden, sie bewerten und sich Tag für Tag mit uns ihre Meinung darüber bilden. Wir wollen, daß die Schlußfolgerungen, welche es auch immer sein mögen, von ihnen selber gezogen werden, von allen und zur gleichen Zeit oder auch später, wie bei uns. Diese Sitzung ist ein gemeinsames Bemühen, dessen letztes Ziel nach dem Worte eines Philosophen eine »offenbarte Wahrheit« sein soll.

Ja, wenn die Massen unsere Entscheidung billigen, dann wird sie Wahrheit werden und im gleichen Augenblick, in dem wir hinter diejenigen treten, die sich zu Wächtern und mächtigen Förderern dieser Wahrheit machen werden, werden wir wissen, daß wir legitimiert waren und daß das Volk, indem es uns seine Zustimmung zeigt, eine viel grundsätzlichere Forderung stellt: daß ein echtes »Tribunal gegen Kriegsverbrechen« als ständige Einrichtung gegründet wird, das heißt, daß diese Verbrechen überall und jederzeit angezeigt und bestraft werden müssen.

Jean-Paul Sartre zur Begründung des Vietnam-Tribunals 1967

Keines der sogenannten Menschenrechte geht also über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist. Weit entfernt, daß der Mensch in ihnen als Gattungswesen aufgefaßt würde, erscheint vielmehr das Gattungsleben selbst, die Gesellschaft als ein dem Individuum gegenüber äußerlicher Rahmen, als Beschränkung seiner ursprünglichen Selbständigkeit. Das einzige Band, das sie zusammenhält, ist die Naturnotwendigkeit, das Bedürfnis und das Privatinteresse, die Konservation ihres Eigentums und ihrer egoistischen Person.

Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine >forces-propres< als gesellschaftlicheKräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.

Karl Marx 1843 zur Frage der Menschenrechte in Deutschland



Urteil oder Vorurteil?

 Zehn Jahre nach den »Osterunruhen«, in der Woche nach Ostern 1978, fand ein meeting von Intellektuellen statt. Sie hatten sich zur Überprüfung der gesellschaftlichen Lage der »Vormärz«-Generation von 1968 zusammengefunden unter der ehrwürdigen Bezeichnung »Russell-Tribunal«. Eine ausdrückliche Begründung dieses Vorgehens wie 1966/67 erfolgte diesmal nicht wie durch die von Sartre ausgedrückte philosophische Bestimmung der »Institution ohne institutionelle Grundlage«. Wer sich Sartres Maßstab für Legitimität und Wirksamkeit jener dritten Intellektuellenversammlung »Russell-Tribunal« zu eigen macht, muß diesmal zu dem Schluß kommen: als Verfahren und Verfahrensweise zur Überprüfung der »Situation der Menschenrechte in der BRD« ist das Russell-Tribunal gescheitert - und diesmal auch illegitim geblieben!

  Die vom alten Lord Russell, dem Papst der >linken< Moralphilosophie, ins Leben gerufene Einrichtung ist historisch erledigt; genau so wie er auch selber nun seit acht Jahren tot ist. Nur für Westdeutschlands ergrimmte bürgerliche Öffentlichkeit spielte es eine Rolle, ob ein derartiges Verfahren radikaler Intellektueller überhaupt in der Bundesrepublik abgehalten werden dürfte. Insbesondere die wirkliche Bundesrepublik hat in den Spalten der Presse oft genug vor Beginn der Sitzungen ihr wütendes Gesicht gezeigt. Das hatte wohl keiner anders erwartet. Wichtiger aber als diese Nebenerscheinungen ist die Frage, ob radikale »Intellektuelle« so wie in Harheim geschehen, mit der Wirklichkeit der Bundesrepublik verfahren dürfen.

 Für die Fragen, die Sartre aufgeworfen hat, und die Maßstäbe, die er damals dargelegt hat, ist einzig von Belang, ob folgende Fragen beantwortet werden können:

 Ist - wie damals beim Vietnam-Tribunal - die angestrebte Universalität der Urteilsbildung diesmal wirklich erreicht worden?

 War die Jury fähig, ihre Aufgabe zu erfüllen und ein deutsches Problem zu klären und zu lösen?

 War die Jury im Sinne der Sartreschen Philosophie befugt und fähig, ein Urteil im Nachhinein zu bilden?

  Intellektuelle sind nun einmal die soziale Gestalt des Urteils im Nachhinein (a posteriori). Sie sind das gern und wünschen es auch nach Kräften zu bleiben. Deswegen haben sich auch die Mitglieder der Jury ohne Umschweife für befugt erklärt. Doch waren sie auch fähig? Sie mögen - wie damals Sartre - auf das Urteil der Geschichte und der Nachgeborenen bauen. Vielleicht erteilen die ihnen dann die späte und schlußendliche Legitimation.

  Was aber, wenn sich jemand anheischig macht, dem Urteil a posteriori, das von der Geschichte irgendwann ausgesprochen werden mag, zu widersprechen? Was aber, wenn einer feststellt mit den eigenen Augen und Ohren, daß die A-Posteriori-Intelligenz ein >A-Priori< hat und hatte und die radikalen Intellektuellen, die dem Un-Wesen des Radikalenerlasses doch bis an seine Wurzeln nachspüren sollten, sich von diesem A-Priori im Vorhinein bei ihren Fragestellungen leiten ließen? Was schließlich bleibt von der erhabenen Gestalt des Intellektuellen übrig, wenn seinem Urteil a posteriori ein schlichtes und ebenso erhabenes Vorurteil voranging und sein Nachdenken und Fragen sich im Dickicht seiner apriorischen Bewußtseinsstruktur, seiner Denkweise verheddert?  - Es bleibt nicht viel, nur eine verzerrte Wahr-nehmung der deutschen Wirklichkeit. Was dabei unsern radikalen Intellektuellen ins Augenlicht fällt, ist vielleicht von einigem Interesse, doch Legitimation durch Verfahren gelingt so nicht!

 Auf die Frage, ob die Begründung und die Legitimation des »Dritten Russell-Tribunals« gelungen ist, wird hier mit Nein geantwortet. Zur Begründung dieser Verneinung wird einiges an Material vorgelegt und damit auch der Gegenbeweis angetreten. Es soll damit auch dargelegt werden, daß weder die Sartresche noch die Russellsche Methodik und Begründung politischer und moralischer Philosophie dazu taugen, die »Anhörungen« und alle sonstigen Erscheinungen des deutschen Un-Wesens und der deutschen Zustände zu verstehen oder zu erklären. Gar nicht zu reden ist davon, ob sie und ihre Jünger in der Jury etwas zur Lösung und Aufhebung deutscher Probleme beitragen können.

 Die Verfahrensweise dieser Art von Intellektuellen ist nicht zuletzt deswegen unfähig, die mit dem Radikalenerlaß einhergehenden Probleme einzusehen, weil diese jenseits von Ansichten und Anschauungen liegen, die sich ein Intellektueller in seinem Kopfe bildet und nach denen er über die BRD oder die Welt im ganzen zu urteilen und zu verurteilen sich anmaßt.
Verfahren und Verfahrensweise des Tribunals lassen sich wie folgt zusammenfassend beurteilen: Aus dem von Vladimir Dedijer vorgetragenen Schlußbericht geht hervor, daß die in ihr zusammensitzenden Personen die Problematik der »Berufsverbote« in der BRD - das Menschenrecht auf Einstellung in den Öffentlichen Dienst - nicht verstanden haben.



Die »Partisanen« links von der Mitte

 Das Russell-Tribunal hat kein Urteil gefällt, sondern Partei ergriffen: gegen die Praktiken des westdeutschen Staates. Die Jury hat einstimmig Partei ergriffen gegen Verfahrensweisen, deren Betroffene die »Extremisten« sind - zugunsten dieser »Extremisten«. Wer aber hätte nicht schon vorher gewußt, daß sie dies tun würden? Wer hätte nicht geahnt, daß sie ein Vorurteil zugunsten der »Radikalen« haben und deswegen den »Erlaß« nicht mögen? Wozu also dann das ganze Spektakel des »Tribunals«? Mußten sich die beteiligten radikalen Intellektuellen erst in die Institution eines Tribunals verwandeln, um mit moralisierendem Zeremoniell in aller Öffentlichkeit für die »westdeutsche Linke« Partei ergreifen zu können? Etwa weil es so »objektiver« aussieht? Für die hiesige Neue Linke Partei zu ergreifen, wäre doch ihr allzeit gutes Recht. Warum in verdeckter, in Partisanenmanier, Partei ergreifen, wenn es, wie die Ereignisse bewiesen haben, auch offen geht? So hat die Jury des Russell-Tribunala unter der Tarn- und Narrenkappe eines an den »Menschenrechten allein« ausgerichteten Urteils ihr gutes Recht wahrgenommen. Ob sie dagegen auch mit guten Gründen erklären kann, warum sie für die »Neue Linke« Partei ergreift, bleibt noch dahingestellt. Das wäre wohl die Angelegenheit geistiger Anstrengung, von der im Schlußbericht allerdings nur wenig Spuren zu erkennen sind.

 Partei ergriffen haben die radikalen Herrschaften in der Jury in erster Linie für die politischen Belange derjenigen »linken« Generation, die einst auch durch den Widerhall des Vietnam-Tribunals im Denken und im Handeln gebildet worden ist. Insofern also auch für die >legitimen< Erben Russells und Sartres. Schließlich ging es bei den »Anhörungen« vor dem Tribunal vor allem darum, was dieser »Vietnam«-Generation, auf die sich Peter Schneider bezieht und der er angehört, im Laufe der letzten zehn Jahre durch den deutschen Institutionalismus widerfahren ist. Es ging um die Verfassung, in der sich die »Bewegung« heute befindet. Diese Verfassung ist denkbar schlecht, wenn Schneider recht hat. Wer seinen Satz liest oder hört, muß sich doch erstaunt die Augen reiben über die darin enthaltene jämmerliche Schlußfolgerung: So leicht war es also, dieser und der in ihre Fußstapfen tretenden weiteren Generationen eigenständiges Denken und Handeln abzugewöhnen! Diese Generation, ihre einzelnen staatsbürgerlichen Individuen sind dem gemeinten eigenständigen Denken und Handeln so entwöhnt worden, daß sie die öffentlichen »Gegen-Anhörungen« des Tribunals zu brauchen meinen , um sich ihr Menschenrecht auf radikales Denken und die Beamtenpension zugleich bestätigen zu lassen. Fürwahr, dies alles hinterläßt den Eindruck einer Narr-etei.



Der alte Freischärler und seine freizügigen Vergleiche

 Das »Ausland«, zu dessen unberufenem Sprecher sich die Russell-Stiftung aufgeschwungen hat, ist besorgt. Es macht sich Sorgen um den politisch wirksamen Erhalt der Lebensbedingungen der Vietnam-Protestgeneration, um die älter gewordene »Studentenbewegung«. Die in der Jury versammelten Geistesarbeiter haben sich bemüht herauszufinden, warum sie sich Sorgen machen müssen. Sie haben auch ganz nebenbei herausgefunden, daß den Parteien der Rechten und der Mitte angelastet werden muß, was die Intellektuellen der Jury zur Fürsprache für die »links von der Mitte« Engagierten zwingt. Es ist freilich in jenem Schlußbericht nicht klar geworden, wieso die DKP und die politischen Gruppierungen links von ihr unter diese politische Ortsbestimmung fallen. So nahe zur »Mitte« werden doch wohl jene Organisationen nicht gerückt werden wollen?

 Schließlich meint das »Ausland«, genauer gesagt, die internationale Neue Linke, als dessen »Institution« sich Chris Farleys Stiftung versteht, all die Übel dieser Welt und endlich auch ihre Ängste vor Deutschland aus der Welt schaffen zu können: Mit aller propagandistischen Freizügigkeit und Übertreibung setzt sie sich für den Erhalt dieses »Pfahls im Fleische« des deutschen Un-Wesens ein. Sicherlich hofft sie, daß die westdeutsche neue Linke einst zum wahren deutschen Wesen werden kann. Nirgends wird das deutlicher als in dem Vergleich, den Dedijer als Präsident der Jury anstellte. Er verglich die studentische Protestbewegung, ihre Generation mit seinen im Zweiten Weltkrieg gegen die Hitler-deutsche Kriegsbesatzung kämpfenden Partisanenkameraden. Hier ist nicht der Ort, den Erkenntniswert solcher geschichtlicher Vergleiche zu überprüfen. Ein solcher Vergleich verdeutlicht wie keine andere Äußerung der Russell-Intellektuellen, welches Vor-urteil sie mit ihren Persönlichkeiten herumtragen und wie sie dieses Vorurteil am wirklichen geteilten Deutschland vorbeisehen läßt. Es kann daher auch darauf verzichtet werden, zu untersuchen, ob ein derartiger Vergleich nicht Ausdruck einer Angsthysterie und vielleicht psychologischer Analyse zugänglich ist.


Menschenrecht auf Anstellung oder auf Arbeit

 Feststellen läßt sich in jedem Betracht, daß die Jury (radikale Intellektuelle) für die in der BRD wie auch anderswo schwach und kraftlos gewordene Neue Linke Partei ergriffen hat. Sie hat sich damit aber nicht allein zum Anwalt ihrer politischen, sondern auch ihrer gesellschaftlichen Interessen gemacht. Zum Anwalt der Menschenrechte der neuen Linken, wie sie solche Linke eben verstehen - und wie sie auch Jimmy Carter versteht.

 Solches Vorgehen ist aber alles andere als die von Sartre geforderte Universalität der Untersuchungsleistung und der Urteilsbildung. Zur Lösung oder gar Aufhebung der Problematik, die sich in der Bundesrepublik mit dem »Radikalenerlaß« ergeben hat, stellt der Schlußbericht von Dedijer weder einen objektiven noch gar wissenschaftlichen Beitrag dar - trotz der Tatsache, daß hier doch »Intelligenz« am Wirken war. Radikale Intellektuelle haben sich für radikale Intellektuelle und deren Nachwuchs eingesetzt. Doch sind die Belange radikaler Intelligenz dadurch mitnichten gefördert worden. Die neue Linke als Intelligenz, als Probleme lösende geistige Arbeit, hat schon lange aufgehört zu existieren und zu wirken. Sie kämpft heute nurmehr um den Erhalt ihrer gesellschaftlichen Stellung im Gesellschaftsgefüge der BRD!

 Mit produktiver Anwendung radikaler Intelligenz hat dieser Kampf jedoch wenig, mit dem gesellschaftlichen Existenzkampf von Akademikern manches zu tun. Da nun aber die Teilnehmer der Revolte sich als künftige Akademiker (existentiell) gewählt haben, hat auch fast alles, was sie für ihre gesellschaftliche und politische Existenz tun und taten, sehr viel mit Existenzialismus zu tun.

 Wenn nun die in der Jury zusammensitzenden Intelligenzen keine neuen Erkenntnisse zutage fördern, wie es Sartre damals vorschwebte, ist das Unterfangen müßig und der Verfassungsschutz sammelt seine »Erkenntnisse« weiter. Die praktische gesellschaftsverändernde Intelligenz der neuen Linken der sechziger Jahre ist versiegt und versickert - im Kampf um Stellen im Öffentlichen Dienst. Deshalb hätte die »Institution ohne institutionelle Grundlage« ein einfaches Ergebnis verkünden können: der lange Marsch durch die Institutionen ist gescheitert, weil er bloß eine Sackgasse in den öffentlichen Dienst war, wie es der deutsche war und bleibt. Stattdessen läßt sich vom Tribunal nur Mittelmäßiges vernehmen: Radikale Propaganda linker Intellektueller für linke Intellektuelle. Mit dem menschlichen Recht auf Schaffung menschlicher Verhältnisse in der BRD und anderswo hat dieses Tun und Treiben dann nur wenig gemein.



Das Russell-Tribunal - Klassenkampf linker Akademiker um Privilegien

Zugleich auch ein Werkzeug emanzipatorischen Kampfes?

Der Tatbestand, um den es hier geht, hat nicht die Eindeutigkeit, die der Krieg der USA in Vietnam oder der Sturz der rechtmäßigen Regierung Allende in Chile hatten. Es gibt meines Wissens kein Menschenrecht auf Einstellung in ein öffentliches Amt - mit Pensionsberechtigung und anderen Privilegien. Es gibt wohl ein negatives Recht: Keiner darf wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Rasse, einem Geschlecht, einer Religion oder aufgrund seiner politischen Überzeugung diskriminiert werden. Es müßte nun untersucht werden, ob dieser Tatbestand auf den Radikalenerlaß/das Berufsverbot zutrifft, welche Kriterien angewandt werden und wo die Grenzen des Anspruchs des einzelnen liegen. Jedermann, der sich damit befaßt, weiß, wie kompliziert die rechtliche und politische Lage hierzu in der BRD ist.

Die Mittel der Klärung und Entscheidung der Frage, ob hier Verletzung von Menschenrechten vorliegt, sind innerhalb der deutschen Demokratie und des deutschen Rechtsstaates noch lange nicht erschöpft. Ein Tribunal außerhalb unserer verfaßten Ordnung einsetzen hieße die Autorität und Funktionsfähigkeit dieses Rechtsstaates in Frage stellen und die Träger und ihre Organe von einer Untersuchungspflicht befreien, die ihnen obliegt.

Ich finde die Aktion der Bertrand-Russell-Stiftung nicht weise und denke, daß die BRD eine liberale Stimme wie die meine auch dann ernst nehmen sollte, wenn sie ihren Vorstellungen widerspricht, so wie sie sie ernst genommen hätte, wenn ich zur Unterschrift bereit gewesen wäre.

Professor Hartmut von Hentig in seiner Antwort an die Russell-Stiftung

Die letzte Form der Wissenschaft ist die Professoralform, die »historisch« zu Werke geht und mit weiser Mäßigung überall das »Beste« zusammensucht, wobei es auf die Widersprüche nicht ankommt, sondern auf Vollständigkeit. Es ist die Entgleisung aller Systeme, denen überall die Pointe abgebrochen wird und die sich friedlich im Kollektaneenheft zusammenfinden. Die Hitze der Apologetik wird hier gemäßigt durch die Gelehrsamkeit, die wohlwollend auf die Übertreibungen der wissenschaftlichen Denker herabsieht und sie nur als Kuriosa in ihrem mittelmäßigen Brei herumschwimmen läßt. Da derartige Arbeiten erst auftreten, sobald der Kreis der (politischen Ökonomie als) Wissenschaft sein Ende erreicht hat, ist es zugleich die Grabstätte der Wissenschaft.

Karl Marx zu von Hentig und zum Frankfurter Fachbereich Gesellschaftswissenschaften



Gesellschaftlicher Charakter der Neuen Linken

 Die Revolte der radikalen Studenten und Akademiker der sechziger Jahre ist stets ein janusköpfiges Geschehen gewesen. Ihre Kampagne gegen den Radikalenerlaß ist es auch. Der kampf der in Geistes- und Gesellschaftswissenschaften »arbeitenden« Bevölkerung gegen den Erlaß ist ein links-reaktionärer Kampf. Hier kämpfte und kämpft das späte Bildungsbürgertum und sein Nachwuchs an den Universitäten gegen die Auswirkungen des organisierten Industriekapitalismus. Es kämpfte unter dem Banner der bürgerlichen Freiheiten, als gelte es, Wilhelm II zu stürzen.

 Wie jede Klasse, die herrschen will, wie jede Schicht, die sich in der Rangordnung der bürgerlichen Gesellschaft den Vorrang sichern will, gibt sie ihre Interessen als die Interessen der ganzen Gesellschaft aus -  in deutschen Landen steht bekanntlich der Professorenrang obenan. Die Klasse der geistigen Arbeit, der sitzende Stand der Intelligenz, handelt stellvertretend für den Ungeist der Gesellschaft und baut Stellvertretungen auf. Eine von diesen Einrichtungen ist auch das Russell-Tribunal. Mit ihm wird Stellvertreter-Politik für das gemacht, was aus der ehemals neuen Linken alt und müde geworden ist und nun in den Staatsdienst drängt.

 Nach der Revolte gegen folgt nun Ein- und Unterordnung der geistigen Arbeiter in und unter den Staat - und damit unters Kapital. Dies bedeutet ein höherrangiges, gut oder schlechter besoldetes, indessen allemal proletarisches Schicksal - ein Bedienstetenschicksal für die geistige Arbeit und den geistigen Arbeiter. Er wird beamteter Wissenssammler und -vermittler, ein beamteter Verwalter von Wissen und Denken. Nicht zuletzt hat er dagegen die Genugtuung, zur Verwaltung von Menschen befugt zu sein, ganz ungeachtet seiner Fähigkeiten zu einer solchen edlen Aufgabe.

 Für diese in den höheren Schulen der Nation und an den Hochschulen herangebildete Klasse bedeutet die permanente Revolte gegen den Kapitalismus, von der diejenige der sechziger Jahre eine extreme Phase war, auch einen Kampf um ihre Existenz als ganze in der Gesellschaft. Es ist zugleich ein Kampf um die Wiedererrichtung der Herrschaft geistiger Arbeit - Herrschaft der »Kulturträgerklasse« - nicht nur über die Produkte der körperlichen Arbeit, sondern auch über die körperliche Arbeit selbst. Die »extremen« Schlußfolgerungen in Richtung und Absicht dieses Kampfes begannen mit Herbert Marcuse und seinen »menschlichen« Dimensionen des Hedonismus. Diese Richtung wurde nüchterner und warnender fortgesetzt mit den »Erklärungen« des Club of Rome und münden heute in den Neo-Rousseauismus der Ökologiebewegung. Es ist die zehntausendfache schlechte Wiederholung der Leiden des jungen Werther.

 Was die neulinke Reaktion letztlich will, kann in zwei Sätzen zusammengefaßt werden:

 Abschaffung der (körperlichen und entfremdeten) Arbeit und »Resurrektion der Natur«. Es handelt sich um einen Aufstand gegen die Bedingungen und Bedingtheiten industriekapitalistischer Reproduktion der Weltgesellschaft, die schon lange überholt und gemein-gefährlich geworden sind.
An die Stelle der welt-kapitalistischen Aneignungs-Ökonomie (Wertvernichtungswirtschaft) muß die sozialistische Produktions-Ökonomie (Wertschöpfungswirtschaft) treten. Es geht sehr wohl um die Herrschaft des menschlichen Geistes, nämlich des Weltbewußtseins aller Menschen - im Reiche der Notwendigkeit. Und daher geht es heute um die planmäßige (bewußte) Herbeiführung dieser Möglichkeiten. Das ist die Aufgabe »sozialistischer« (menschlicher) Intelligenz!

 Nur: geistige Arbeit zur Schaffung neuer Reproduktionsbedingungen anstelle der alten kapitalistischen leistet die Neue Linke schon lange nicht mehr. Körperliche Arbeit hingegen schaffen diejenigen Einzelnen (»einzigen Egoisten«) für sich erfolgreich ab, denen es gelingt, in den Staatsdienst zu kommen. - Alle Bestrebungen, die sich auf Seiten der Neuen Linken um dieses Ziel bemühen, sind reaktionär! Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, warum die folgende Bestimmung des Intellektuellen allen Strömungen der westdeutschen Linken nicht nur nicht einleuchtet, sondern bei ihr auch auf Ablehnung stößt:

Der Intellektuelle, der von seinem oder ihrem Eintreten für die Klasse ausgeht, deren Entstehen sie oder er ihre Bestrebungen widmen, der politischen (arbeitenden) Klasse für sich, und der bewußt, aber noch abstrakt, alle entscheidenden weltweiten produktiven Betätigungen der arbeitenden Klasse in einen integrierenden Begriff bringt (und auf den Begriff bringt), ein(e) solche(r) Intellektuelle(r) hat - noch vor dem wirklichen Entstehen der Klasse für sich - eine Form des Bewußtseins (des Begreifens) ausgebildet, die der tatsächlichen Klasse für sich natur-gemäß und angemessen ist, wenn sie zu einem gegebenen geschichtlichen Zeitpunkt entsteht.

 Nur wer sich das Vorstehende klarmacht, kann den gesellschaftlichen Charakter der Studentenbewegung begreifen. Sie war (und ist es bisweilen noch) eine Revolte gegen den Kapitalismus und seine Dominanz und Durchdringung der modernen technisch-industriellen Produktionsweise. Gegen diese Bedingungen und ihre logische Dynamik mußten die Studenten und die bereits zu solchen gewordenen späten Bildungsbürger ihre »einzige Persönlichkeit« durchsetzen, wollten sie nicht »entfremdete Arbeit« leisten. Das ist eine Schlußfolgerung, die schon aus dem Habermasschen »Student und Politik« gezogen werden mußte.
Nur so läßt sich dann auch der Mikrokosmos »studentischer Politik« in seinem Funktionieren verstehen: ihre zahlreichen und buntscheckigen Interessenvertretungen in »politischem« Gewande, die Dutzenden von alten »proletarischen« Vor-Hüten in Universität und Betrieb, in Schule und Forschungsinstitut. Praktisch handelt es sich um lauter kleine Duodez-Diktaturen von »linken« Parteiideologen, die sich ihre wahnhaften Führungsansprüche um die Wette streitig machen.

 Auf der anderen Seite aber, auf der besoldeten und sonnigeren Seite der geistigen Arbeit stehen die »liberalen« Sozialisten, die Fortschrittlichen, die bereits in Amt und Würden vorgeschritten sind. Sie erweisen sich dem kapitalistischen Staat, dem sie sich bereits erfolgreich angedient haben, als brauchbare Kritiker auch der »autoritäten« Sozialisten - als kritische Kritiker mit Pensionsanspruch.


Die Arbeit tun die andern

 Nun ist aber die »akademische« Klasse, Vorhut und Elite der »verdrängenden Klasse«, gespalten in Bildungs-Spätbürgertum und Technokraten der Macht oder des Betriebs. Die besoldeten Denker und Lenker des kapitalistischen gemeinen Unwesens ( - technische Lohnarbeiter und Lohnerfinder im Dienste der Verwertung von Kapital - ) führen auch einen erbitterten Kampf gegen die »Revolution der steigenden Erwartungen« unter dem bildungsbürgerlichen Teil der Universitätsbevölkerung. Denen, die körperlich arbeiten oder durch ihre geistige Arbeit den Produktionsprozeß gestalten und verändern, setzt ein Schelsky den Lorbeer auf. Den Denkern in Privilegien, Sozialreform, Sozialarbeit und allen sonstigen Ideen hält er die höhnische Versicherung entgegen: Die Arbeit tun die Andern.

 So machen sich Professoren seiner Farbe mit hämischem Grinsen zum unberufenen Fürsprecher derer, die an der Herstellung und Vernichtung kapitalistischer Werte mitwirken. Vom verspäteten Bildungsbürger verlangen sie daher die gleiche Unterordnung, die jene und natürlich auch er selbst vollziehen mußten. Ein- und Unterordnung in der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« und fügsame Hinnahme des allgemeinen Mittelmaßes ist ihr Wahlspruch. Ganz nebenbei verlangen sie auch noch die Hinnahme jener mittelmäßigen Apologie der Gesellschaft, die ein Schelsky von seiner Gelehrtenkanzel bis zu seiner jüngst erfolgten Pensionierung verkünden durfte. Der Schriftgelehrte des deutschen Institutionalismus verkündete aber nicht nur dies. Er fand auch Gründe dafür, wann und warum ein Bildungsbürger in der Verwaltung des gesellschaftlichen Mittelmaßes keine Stellung bekommen kann. Demokratisierung findet nicht statt, wenn der Bewerber nicht richtig dienen, d. h. sich den wohlverstandenen Interessen des kapitalistischen Staates unterwerfen will.

 
Wird hier fortgesetzt